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Krefeld. Langsam schabt die Baggerschaufel in einer langen Bahn eine dünne Sand-Erde-Schicht ab. Grabungstechnikerin Eva Augustin wiederholt diese feinfühlige Prozedur mit dem kleinen Bagger immer wieder. Der Archäologe Dr. Hans-Peter Schletter am Museum Burg Linn schaut derweil konzentriert auf jede freigelegte Schicht. Auf einmal werden schwarze Flecken, die auf verbranntes Holz hinweisen, Schiefer und Backsteine sichtbar. „Stopp!“, sagt Schletter. Zu seinem Erstaunen findet er Scherben, die aus dem Hoch- und Spätmittelalter stammen. „Das ist Keramik aus dem 13. Jahrhundert“, meint er, befreit es noch etwas vom Erdreich und schaut sich das Stück nochmals genau an. „Ich hätte Funde aus der frühen Neuzeit erwartet“, so der Archäologe. Denn bislang waren an dieser Stelle des Burginnenhofs nur Gebäude aus dem 16. und 17. Jahrhundert bekannt. Solche älteren Spuren seien ein Indiz für eine frühere, bislang unbekannte Bebauung.

Schletter dokumentiert umgehend, was er an welcher Stelle geborgen hat. Ob es sich um eine kleine oder große Grabung handelt, die wissenschaftlichen Standards bleiben stets gleich. „Das muss alles sehr gründlich erfolgen, schließlich sollen meine Kollegen in 100 Jahren nachvollziehen können, was ich hier gemacht habe“, erklärt der 51-Jährige. Um eine exakte Zuordnung zu gewähren, wurde der gesamte Fundbereich in verschiedene, nummerierte Unterbereiche gegliedert. Jeder Unterbereich erhält ein Dokumentationsblatt, auf dem Punkt für Punkt die Bodenbeschaffenheit, die Fundsituation und die Funde vermerkt sind. Zudem werden Fundstellen mit einem Lasermessgerät kartographiert. Die Scherben kommen in eine Box, die mit der entsprechenden Nummerierung aus der Dokumentation die spätere Zuordnung ermöglicht. Nachdem Schletter das erledigt hat, kann Grabungstechnikerin Eva Augustin die Baggerschaufel wieder in Bewegung setzen.  

Von der Baugeschichte der Burg Linn existieren keine sicheren Quellen und kaum Zeichnungen, die sie vor ihrer Zerstörung Anfang des 18. Jahrhunderts zeigen: Bereits im August 1702 belagerten und bombardierten preußischbrandenburgische Truppen im Spanischen Erbfolgekrieg die Burg und beschädigten sie schwer. Nur zwei Jahre später brannte ein Bereich aus, am 10. Juli 1715 löste ein Blitz ein erneutes Feuer aus, seit 1728 galt sie als unbewohnbar. Was sich über die Baugeschichte der Anlage aus dem Hoch- (Mitte 11. bis Mitte 13. Jahrhundert) und Spätmittelalter (etwa 1250 bis 1500) sowie der Frühen Neuzeit (1500 bis 1789) ermitteln lässt, steckt heute im Boden. In den 1950er-Jahren grub zwar der damalige Museumsleiter Dr. Albert Steeger umfangreich im Innenhof und legte die Fundamente des Wohnturms aus dem 12. Jahrhundert frei. Aber Steeger entlockte dem Areal nicht jedes Geheimnis. Sein Nachfolger Dr. Christoph Reichmann untersuchte einen Teilbereich, der am unteren Rittersaal anschließt, dem Bereich der einstigen Burgküche. Daran angrenzend gräbt nun Schletter.  

Es dauert nicht lange, als der Archäologe plötzlich wieder „Stopp!“ ruft. „Hier sind zwei Verfärbungen“, sagt Schletter. Das könnten zwei gut 40 Zentimeter breite Pfosten gewesen sein. Das längst verrotte Holz verfärbte an diesen Stellen markant den Boden. Eva Augustin legt Messlatten neben die beiden Stellen und richtet einen schwarz-weißen Pfeil nach Norden aus. Von mehreren Positionen fotografiert sie die Verfärbungen, in das Dokumentationsblatt trägt sie die Fotos ein, beschreibt die Bodenbeschaffenheit. Dann kann es weitergehen. Aber nur kurz. Die Grabungstechnikerin weist auf Mauerreste hin, die rund gemauert wurden. Sie passen überhaupt nicht zu einem schon freigelegten, direkt anschließenden und in L-Form gemauerten Areal. Um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, wird nun der gesamte Bereich freigeräumt. Eine Mauerecke kommt noch zum Vorschein, die an den rund gemauerten Teil angrenzt. „Das sind wiederverwendete Backsteine aus dem Spätmittelalter“, meint Schletter. Von der Form könnte es sich zumindest bei der runden Konstruktion um einen Ofen gehandelt haben. Für die weitere Untersuchung wird Eva Augustin später alles fotografieren und am Rechner mit diesen Aufnahmen ein 3D-Modell erzeugen. 

Mit einem kleinen Bagger legt Grabungstechnikerin Eva Augustin die Fundstelle frei. Links: Runde Backstein-Konstruktion, die eventuell einmal Basis für einen Ofen war (Foto: Museum Burg Linn)

 

Immer tiefer buddelt sich nun die Baggerschaufel in den Boden. Es sind nur zwei, drei Zentimeter, die jeweils abgezogen werden. Deutlich setzt sich rundum eine gut zehn bis 15 Zentimeter dicke Schicht mit verkohlter Erde, Backsteinen und Schieferbruchstücken ab. Darin finden sich immer wieder Keramikscherben. Unter dieser Schicht zeigt sich eine graue Lehmschicht. „Das ist die Aufschüttung, die im 13. Jahrhundert mit dem Burgmauerbau erfolgte“, erklärt Schletter. Der Blick geht konzentriert in die Grube, der Abraum wird durchsucht, ob sich noch eine Scherbe finden lässt. Es kommt jedoch keine Keramik mehr zum Vorschein. Nach einer dünnen, brauen folgt eine dunkelbeige Schicht. „Das ist die ursprüngliche Motte“, so der Archäologe. Also jene Aufschüttung, auf der im 12. Jahrhundert nachweislich ein steinerner Wohnturm stand. Ob davor bereits ein Holzturm existiert hat, ist offen. 

Die einzelnen Schichten sollen auch dokumentiert werden, damit sie mit anderen Schichtsichtungen im Burgumfeld verglichen werden können. „Fotos sind hier zu ungenau, deshalb zeichnen wir die Profile“, erläutert die Grabungstechnikerin. Mit einer Kelle ritzt Eva Augustin die Schichtränder heraus, in der Grube spannt sie waagerecht eine Schnur und ein Metermaß. Von dieser Richtschnur ausgehend misst sie in Intervallen alle Schichtenränder und überträgt die Punkte auf Millimeterpapier. Eine langwährende und stille Arbeit ist das, bei der so Punkt für Punkt ein Abbild des Bodenprofils entsteht, das abschließend noch koloriert wird. Damit endet die mehrtägige Grabung, doch die Arbeit wird nun von Schletter im Museum mit der weiteren Analyse und Untersuchung fortgesetzt. Diese Erkenntnisse können dann andere Archäologen oder Historiker für Forschungszwecke oder Fachberichte nutzen. Vielleicht lassen sich in der Restaurierungswerkstatt des Museums Burg Linn auch einige Scherben wieder zu einem Gefäß zusammensetzen, das die Besucher dann auf der Burg besichtigen können.

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