(Foto: Karepa-Belov)
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Duisburg. Wer sich verkleidet, erweitert seinen Horizont, kann aber auch zu tief eintauchen. Ein kleiner Einblick in die fünfte Jahreszeit aus psychosomatischer Sicht.

Wenn die Queen an eine Häuserecke pinkelt und Michael Jackson lässig einen Döner isst, hat der Straßenkarneval im Rheinland begonnen. Im Rausch von Farben, Alkohol und guter Musik schlagen viele Jecken über die Stränge und unter die Gürtellinie. Was das mit den Kostümen zu tun hat, woher die Lust am Verkleiden eigentlich kommt und welche Schattenseiten der Karneval, vor allem für Funkenmariechen, haben kann, weiß Psychosomatikerin Dr. Carmen Blaschke, Chefärztin an der Helios Marien Klinik Duisburg.

Für viele Rheinländer ist nach dem Karneval vor dem Karneval. Schon am Aschermittwoch beginnt die Suche nach einem passenden Kostüm fürs nächste Jahr. Mit viel Herzblut feilen und basteln die eingefleischten Jecken über Monate hinweg an kreativen Ideen. Andere hingegen bestellen die sexy Krankenschwester oder das Pilotenoutfit schnell noch online. Gemeinsam haben sie trotzdem etwas: „In der fünften Jahreszeit war es schon immer möglich, durch Kostümierung in andere Rollen zu schlüpfen und Persönlichkeitsseiten spielerisch auszuleben. Oftmals bilden die gewählten Verkleidungen dann einen kompletten Gegensatz zum eigenen Alltagsnaturell“, sagt Dr. Carmen Blaschke, Chefärztin der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie an der Helios Marien Klinik Duisburg. Die gebürtige Kölnerin weiß, wovon sie spricht. Karneval ist ihr naturgemäß eine Herzensangelegenheit. An diesem erwähnten Gegensatz zum alltäglichen Ich liegt es wahrscheinlich auch, dass so viele Jecken von Altweiber bis Veilchendienstag feiern als gäbe es kein Morgen. Es wird geflirtet, getanzt und getrunken, ganze Städte versinken im Rausch und gerüchteweise kommen neun Monate später besonders viele Kinder auf die Welt. Die Maskerade bietet dabei viel Spielraum. Wenn einen niemand erkennt, warum nicht wirklich mal ein anderer sein und sich auch so benehmen. Die Gründe können verschieden sein: Die einen wollen Sehnsüchte ausleben, die nächsten provozieren oder die Kontaktaufnahme durch besonders neckische Verkleidungen erleichtern, wieder andere sind gerne kreativ und zeigen das auch. Durch die Kostüme entsteht so, trotz unterschiedlicher Motive, ein übergreifendes Gemeinschaftsgefühl sowie ein geschützter Rahmen, in dem alles möglich scheint. Diesen befreienden Effekt hat Karneval beziehungsweise das Verkleiden an sich schon seit Jahrhunderten.

Gut für das Selbstbewusstsein

Altersgrenzen nach oben gibt es dabei so gut wie keine, für Heranwachsende aber kann eine Verkleidung laut Carmen Blaschke noch eine tiefere Bedeutung haben: „Der heutige gesellschaftliche Wandel mit Aufweichung der traditionellen Geschlechterrollen bietet einerseits vielfältigere Möglichkeiten, kann aber auch zu Verunsicherung und Desorientierung gerade bei Jugendlichen führen. Da bieten Kostüme und Rollenspiele, ob real oder virtuell, einen Weg, um etwa ein instabiles Selbstwertgefühl auszugleichen, weil man Einfluss auf die Eigenschaften des Charakters hat.“ Die Grenze, ab wann solche Identitäten zu viel Raum im Leben der Betroffenen einnehmen, ist dabei sicherlich fließend und für den kurzen Karneval nur mäßig relevant. Anders ist es bei digitalen Alter Egos, hier besteht über einen längeren Zeitraum tatsächlich die Gefahr einer Isolation und Flucht aus der Realität.

Funkenmariechen sind eine Risikogruppe

Der Chefärztin ist aber noch ein weiterer Aspekt der kostümierten Zeit wichtig, deren Folgen sie auch in ihrem Klinikalltag erlebt und der jüngst in Köln für einen Skandal sorgte, als eine Gewichtstabelle für Funkenmariechen die Runde machte: Vor allem sehr ambitionierte Karnevalisten, die in ihren Rollen völlig aufgehen und zahlreiche Auftritte von November bis Februar absolvieren, strapazieren ihren Körper bis an die Belastungsgrenze. „Wir haben immer wieder Funkenmariechen auf der Station, die aufgrund der Anstrengung und der strengen Gewichtsvorgaben in eine Essstörung abgleiten. Sie kommen dann nach Aschermittwoch in extrem schlechter körperlicher Verfassung zu uns, häufig, nachdem sie ‚noch unbedingt die Session durchtanzen wollten‘.“ Wie bei allen Sportarten, in denen Gewicht und Aussehen eine entscheidende Rolle spielen, gehören auch Tänzer zu einer Risikogruppe für Essstörungen. Trainerinnen und Trainer sollten für diese Problematik sensibilisiert sein, um verantwortungsbewusst mit den Aktiven umzugehen. Denn zuallererst ist die fünfte Jahreszeit dafür da, um Spaß zu haben und den Feiernden auch im Alltag positive Impulse geben: Wer den Mut für eine auffallende Verkleidung aufgebracht hat, wird sich vielleicht beim nächsten Lampenfieber im Büro daran erinnern und gelassener werden.

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