Neuss. Angebote der Behindertenhilfe setzen normalerweise auf klare Strukturen, gesellschaftliche Teilhabe und geregelte Sozialstrukturen
Es herrscht reger Betrieb in der Werk- und Begegnungsstätte im Erdgeschoss des Haus St. Vitus‘ in Neuss: Würfel rollen, Karten werden gemischt, es wird viel gelacht. Doch eigentlich ist es hier vormittags viel voller. Zu den Klienten, die im Haus St. Vitus wohnen, kommen noch zahlreiche weitere psychisch kranke Menschen aus anderen Häusern der St. Augustinus Gruppe. Doch wegen der Corona-Krise bleiben aktuell alle Klienten in ihrer eigenen Einrichtung. Gerade für Menschen, die einen ganz geregelten Tagesablauf brauchen, um gesund zu werden, stellt das eine riesige Herausforderung dar. „Wir machen zurzeit eine Art ‚Tagesstruktur to go‘“, sagt Björn Segger, Bereichsleiter der Behindertenhilfe der St. Augustinus Gruppe. „Die Werk- und Begegnungsstätten sind für unsere Klienten eine ganz wichtige feste Größe. Dort können sie zurzeit nicht hin, deswegen müssen wir auf anderen Wegen Normalität in die außergewöhnlichen Lebensumstände bringen.“
Die Sensibilität der Klienten ist groß. Viele haben jahrelange Psychiatrieerfahrung, nicht wenige Lebensläufe sind geprägt von großen Sorgen und Ängsten. Und jetzt Corona. „Das ist ein wirklicher Einschnitt im alltäglichen Leben“, betont Segger. „Das bisschen Normalität, das wir durch unsere strukturierenden Maßnahmen für die Klienten erreichen, bricht jetzt weg.“ Deshalb hat die Behindertenhilfe der St. Augustinus Gruppe für ihre insgesamt 40 Wohneinrichtungen das tagesstrukturierende Personal in die Teams der Wohneinrichtungen integriert: Die Betreuer kommen jetzt in die einzelnen Einrichtungen wie das Haus St. Vitus, um dort mit den Menschen zu spielen, zu malen, zu singen, zu kochen, vorzulesen, zu backen, gemeinsam zu lernen oder einfach nur zu klönen. Denn das wichtigste seien zurzeit, so Björn Segger, stabile Sozialkontakte.
Zur psychischen Komponente kommt die körperliche, darauf weist Wilfried Gaul-Canjé als Geschäftsführer der Behindertenhilfe der St. Augustinus Gruppe hin: „Menschen mit Behinderung haben eine bis zu vier mal so hohe Gefahr zu erkranken. Und ausgerechnet das, wofür wir ja stehen – die Inklusion –, kann im Moment nicht stattfinden.“ Das Konzept zeichne sich ja aus durch Begegnung, Kontakt und gesellschaftliche Teilhabe. „Raus in die Welt, das wünschen wir uns. Das müssen wir jetzt dramatisch einschränken und trotzdem das Leben qualitätsvoll gestalten.“
Über die vielen dezentralen Angebote hinaus gilt es zurzeit auch zahlreiche Frage zu beantworten. Denn die Klienten sind verunsichert. „Wir erklären alles ganz ausführlich und in einfacher Sprache“, betont Gaul-Canjé. Die gesamte Situation erfordert natürlich auch von den Heilerziehungspflegern und Betreuern enormen Einsatz. Daher ist der Geschäftsführer besonders stolz auf seine Mitarbeiterschaft und lobt: „Die Leute wissen, dass es jetzt auf jeden einzelnen ankommt. Jetzt in der Krise noch mehr, als ohnehin – und sie machen das ganz großartig!“