Alfred Grimm, Mahnmal für die ehemalige jüdische Gemeinde (Foto: Martin Büttner, Dinslaken)
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Dinslaken. Seit 1988 ist in Dinslaken eine individuelle Gedenkkultur entstanden, die an die ehemalige jüdische Gemeinde der Stadt erinnert. Der Künstler Alfred Grimm (geb. 1943) verleiht diesem Gedächtnis die stadtprägende Gestaltung.

„Ja, noch rechtzeitig im Jahre 2021, in dem „1700 Jahre Juden in Deutschland“ gedacht und gefeiert wird, ist mein fünfter Gedenkstein der Öffentlichkeit übergeben worden“, freut sich Grimm, der in Dinslaken aufgewachsen ist, bei Joseph Beuys in Düsseldorf studierte und als Objektkünstler überregional bekannt ist. Wer bei dem Wort „Gedenkstein“ nun an die klassische Bronzetafel mit Textfeld denkt, liegt hier nur zur Hälfte richtig, denn Grimms Arbeiten zeichnen sich vor allem durch sinnlich erfahrbare Inhalte aus. Es sind ganz konkrete Gegenstände, Werkzeuge, Kleidungsstücke, Knochen usw., die die historischen Geschehnisse des Ortes präzise vor Augen halten und die persönliche Biografie von Menschen beleuchten.

In Dinslaken gab es ein starkes, angesehenes und in das öffentliche und gesellige Leben integriertes jüdisches Bürgertum, bis von diesen 301 Menschen jüdischen Glaubens nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten keiner mehr im Ort ansässig war. Sie wurden in die Konzentrationslager verschleppt, konnten fliehen oder nach Übersee auswandern. Auch hier konnten sich in der Reichspogromnacht 1938 die Übergriffe auf die Juden und die jüdischen Einrichtungen und Gebäude voll entfalten. Die Synagoge brannte. Das jüdische Waisenhaus, einer weit über die Grenzen der Rheinprovinz bekannten Institution, wurde geplündert. Das Haus blieb erhalten. Es sollte von den nationalsozialistischen Machthabern später als Verwaltungsgebäude benutzt werden.

Die jüdischen Waisenkinder wurden am nächsten Tag in einem „Judenzug“ durch die Straßen von Dinslaken getrieben und der Bevölkerung präsentiert. Die älteren Jungen mussten einen herbeigeschafften, bäuerlichen Heuwagen, auf dem die kleineren Mädchen und Jungen saßen, zur „Unterhaltung“ der Bevölkerung durch die Stadt ziehen.

„Das war 1938“, sagt Alfred Grimm und erinnert sich lebhaft an die Tatsache, dass 50 Jahre später, 1988, noch einmal solch ein Menschenzug stattgefunden hat. Mitglieder der evangelischen und katholischen Kirchen hatten zu einem Gedenkzug aufgerufen, an dem wieder ein ähnlich großer Leiterwagen mitgeführt wurde. Nur diesmal nahmen hunderte von Jugendlichen und Erwachsen teil, die Transparente und Schilder trugen, deren Inschrift eine eindeutige Botschaft enthielt „Nie wieder!“

Grimm: “Aus dieser Demonstration 1988 erwuchs die Vorstellung, dass eine feste Erinnerungsstätte entstehen könne, die als Mahnort den Menschen dauerhaft zur Verfügung stünde. Dieser Gedanke sollte in die Tat umgesetzt werden. An einem mehrstufigen Wettbewerb durfte ich mich beteiligen. Mein Entwurf griff genau die damalige Situation mit dem Leiterwagen auf und ergänzte die Szene durch eine dicke Wand, die der Wagen durchbricht. Auf dem Wagen befinden sich zusätzlich sechs Container, in denen die Relikte der Deportierten und die Überreste ihrer Habe plastisch zu sehen sind: Eine Fülle von Taschen, Damen- und Herrenschuhen, Kleidungsstücke und – in einem kleineren Karton – befindet sich das, was von uns allen übrigbleibt: Asche, Knochen, Gebissteile, Zähne. Die lebensgroße Plastik wurde in Bronze gegossen und fünf Jahre später, im Jahre 1993, unter großer Anteilnahme von über 1000 Menschen und der Presse – sogar aus Amerika waren Journalisten angereist – der Öffentlichkeit übergeben.“

Mehrmals im Jahr finden dort Gedenkfeiern zu jüdischen Ereignissen statt. Verschiedene Institutionen, die Stadt Dinslaken, die weiterführenden Schulen und andere Gruppen versammeln sich an unterschiedlichen Tagen an diesem Dinslakener Mahnmal, das zu einem beachteten Zentrum des Gedenkens geworden ist.

„Und dann geschah etwas Einmaliges“ erinnert sich Alfred Grimm: „Vertreter der Stadt wollten zusätzlich zu den Stolpersteinen, die in Dinslaken auch verlegt werden und in denen Namen und Daten eingestanzt sind (gemeint sind die bekannten Pflastersteine, die der Künstler Gunter Demnig in Erinnerung an ehemalige jüdische Bewohner des jeweiligen Ortes im ganzen Bundesgebiet verlegt), vier ausgewählten Familien und ihren ganz verschiedenen Berufen ein „Gesicht“ geben. Dazu sollte ich Entwürfe gestalten. Und das kommt meiner künstlerischen Arbeitsweise sehr entgegen. Ich wollte diese jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die täglich in dieser Stadt ihrer Arbeit nachgingen, in sinnlich-plastische Beziehungen zu ihren Berufen setzen. Man soll auch heute noch sehen und nachvollziehen können, was sie taten.“

Übergabe des Mahnsteins für Elly Eichengrün am 23.10.2012 (Foto: privat)

2012 und 2013 konnten vier Gedenksteine mit je einer Mittelstele und zwei Sitzsteinen enthüllt werden. Auf dem größeren Stein in der Mitte befindet sich eine Bronzeplastik, die Auskunft über die Berufe der vier Familien gibt: So entstand das Bild der Putzmacherin Elly Eichengrün, die modisch interessierten Frauen mit Hüten, Schals und anderen eleganten Accessoires ausstattete. In einer Bronzeplastik in der Neustraße findet man einen Schrank, Betten und Geschirr, Dinge die man im Haushalt benötigt und die der Kaufmann Siegfried Bernhard in seinem Sortiment anbot. Weitere Plastiken erinnern an die Viehhändler Julius und Joseph Jacob und den Installateur Julius Isaacson. Dessen Arbeitsmaterial, eine Zange, einen Wasserhahn kann man hier sehen und, wie der Künstler erläutert, „eine Kröte, die in einem nassen Rohr sitzt und über das Leid, das über diese Menschen kommen sollte, unkt. Heute legen Gäste und Besucherinnen eine Hand auf die Unke und können sich schweigend etwas wünschen, das in Erfüllung gehen wird. Zweimal kamen aus dem entfernten Argentinien Verwandte zu dieser Plastik und wollten den Ort sehen, an dem ihr Vorfahre lebte, arbeitete und an dem jetzt seiner Person und seiner Familie gedacht wird. Übers Internet hatten sie die Spur zu dem Dinslakener Gedenkstein gefunden.“

Schließlich ergab sich für Grimm ein erneuter Auftrag zum jüngsten jüdischen Gedenkstein. Über dessen Hintergrund erzählt der Künstler: „In der Dinslakener Innenstadt gab es einen lange genutzten Judenfriedhof „Auf dem Doel“. Dieser lag einst einer Erweiterung der städtischen Infrastruktur im Wege. Eine neue Straßenbahn sollte vom nahen Bahnhof über diesen jüdischen Friedhof in die Großstadt Duisburg fahren können. Ein jüdischer Friedhof ist jedoch für die Ewigkeit angelegt. Die Totenruhe darf nicht gestört werden. Nach langem Hin und Her konnten die jüdische Gemeinde und die Stadt sich 1927 einigen. In Breslau war ein ähnlich gelagerter Fall eingetreten. Dort erging eine Entscheidung, die für das Geschehen in Dinslaken Einfluss haben sollte: Gegenüber dem obersten Gesetz der jüdischen Religion darf die Ausübung von Geboten niemals Leben und Gesundheit von Menschen gefährden. Die Unantastbarkeit der Friedhöfe müsse zurücktreten. Die Unversehrtheit der Lebenden stehe über dem Gesetz des ewigen Ruherechts. So wurde der Dinslakener Friedhof eingeebnet und verschwand unter dem Straßenpflaster des neuen Kreisverkehrs. Man munkelt auch noch heute, dass Knochen unter den Steinen liegen. Laut Vertrag darf diese Stätte auch nicht überbaut werden. Die alten, jüdischen Grabsteine hat man auf den neuen Parkfriedhof überführt, der 1927 angelegt wurde.“

Alfred Grimm, Mahnmal zur ehemaligen jüdischen Gemeinde, 2021 (Foto: Joachim Pfannschmidt, Münster)

Am Ort dieses alten jüdischen Friedhofs sollte Grimm eine neue Gedenkstätte gestalten. Nach Fotos aus dem Stadtarchiv, die das Abtragen des Friedhofs im Jahr 1927 dokumentieren, formte er die damalige Gegebenheit in Wachs nach: Die bergige Anlage, die wuchernden Bäume, den umgebenden Eisenzaun und die noch auf dem Parkfriedhof erhaltenen Grabsteine. Drei ausgewählte Grabsteine aus den Jahren 1770, 1858 und 1931 bildete Grimm etwas größer unten an dem Fuß der Mittelstele nach. Zusätzlich wurde ein QR-Code angefügt, mit dessen Hilfe umfassendere Informationen abgerufen werden können: Stadtpläne, Urkunden, Interviews, Presseartikel, Fotos, Karten und historische Materialien, eingebunden in ein größeres Umfeld und verbunden mit allen Außenplastiken der Stadt und ähnlichen Projekten. Die endgültige Fertigstellung mit Einsatz der bronzenen Texttafel und des QR-Codes erfolgte jüngst am 18.11.2021 und erinnert seitdem an Dinslakens Kreisverkehr (in unmittelbarer Nähe zum Mahnmal von 1993) an die besondere Geschichte dieses Ortes und der Menschen, die hier einst lebten.

von Joachim Pfannschmidt M.A. (Münster)

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