Das Kollegium der städtischen Christophorusschule besteht aus fünf Lehrerinnen und Schulleiter Boris Bertram (Foto: Stadt Krefeld, Presse und Kommunikation, Andreas Bischof)
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Krefeld. Nico hat seine Hausaufgaben vergessen. Seine Lehrerin Carla Seel setzt dieser Beichte zum Beginn des Matheunterrichts ein Lächeln entgegen. Hausaufgaben sind derzeit keine Pflicht für Nico. Überhaupt ist ihm dies das erste Mal passiert. Er ärgert sich dennoch. Nico stützt seinen Kopf in die linke Hand und beugt sich über einen Aufgabenzettel. Heute berechnet er Extrem- und Wendepunkte für die Kurvendiskussion. Während Carla Seel die nächsten Aufgaben vorbereitet, löst Nico Gleichungen. Auf dem Tisch liegt ein Geodreieck. Von der Wand lacht ein aufgemalter Papagei. Hinter Nico steht der „Baum”. So nennt der 16-Jährige das rollende Gefährt, das seit einigen Wochen zu ihm gehört. Mit dem „Baum”, seinen verschiedenen Monitoren und Flüssigkeitsbeuteln, ist Nico über mehrere Schläuche verbunden. Vor wenigen Wochen fand sein Unterricht noch in einer Duisburger Gesamtschule statt, heute ist ein Einzelzimmer auf der fünften Etage des Helios-Klinikums sein Klassenzimmer. Nico hat Lymphknotenkrebs. In der Kinderklinik bekommt er derzeit so oft wie möglich Schulunterricht, ermöglicht durch die städtische Klinikschule. In diesen Tagen feiert sie ihr 50. Jubiläum.

Christophorusschule ist an zwei Standorten aktiv

Die Krefelder Christophorusschule ist besonders. Sie ist weder Regel- noch Förderschule, sondern wird als sogenannte „Schule eigener Art” geführt. Wenn ein Kind seine Heimatschule krankheitsbedingt länger als vier Wochen nicht besuchen kann, hat es ein Recht auf Unterricht. Die Christophorusschule betreut erkrankte Kinder in der Primar- und Sekundarstufe an zwei Standorten. Im Helios-Klinikum unterrichten die Lehrkräfte hauptsächlich Kinder und Jugendliche mit onkologischen und chronischen Erkrankungen. In der Tagesklinik des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) lernen junge Menschen mit psychischen Krankheiten in der Klinikschule. „Bestenfalls können die Kinder und Jugendlichen durch unsere Betreuung nach ihrem Klinikaufenthalt ohne große Probleme oder Brüche wieder in den Unterricht ihrer Stammschule einsteigen”, skizziert Boris Bertram das Hauptziel einer Klinikschule. Er leitet die Christophorusschule seit 2020. „Teilweise finden wir für die Schülerinnen und Schüler aber auch einen neuen, passenderen Förderort”, ergänzt Bertram. Er bildet das Kollegium zusammen mit fünf Kolleginnen. Sie sind in unterschiedlichen Lehrämtern der allgemeinen Schulen sowie in verschiedenen Bereichen der Förderschulen ausgebildet. „Natürlich aber geht es bei uns um mehr als bloßen Schulunterricht”, sagt Bertram. „Mit dem täglichen Unterricht möchten wir den Kindern in einer oft stark belastenden Lebensphase ein Stück weit Alltag und Normalität vermitteln.”

Enger Austausch zwischen Klinik- und Stammschule

Die Christophorusschule ist seit fünf Jahrzehnten ein integraler Teil der Krefelder Kinderklinik. Vor 24 Jahren kam mit der LVR-Tagesklinik eine weitere Dependance hinzu. Die Lehrkräfte erarbeiten die individuell auf die Kinder abgestimmten Lern- und Förderziele gemeinsam mit einem multiprofessionellen Team aus Ärzten, Psychologen und Therapeuten. Ein ständiger Austausch besteht außerdem zwischen Klinik- und Stammschule. Boris Bertram und seine Kolleginnen vermitteln in den Kliniken den Unterrichtsinhalt, der analog auch in der Heimatschule behandelt wird. Meist schreiben die Kinder auch Arbeiten und Klausuren in der Klinik. Die Christophorusschule verfügt im Helios-Klinikum über zwei kleine, modern ausgestattete Klassenräume. Vorwiegend findet der Unterricht aber im Patientenzimmer der Kinder statt. Die jungen Menschen in der Helios-Klinik sind häufig schwer krank, befinden sich in Therapie oder können ihre Zimmer aus anderen Gründen nicht verlassen. Das Schulteam berücksichtigt daher immer tagesaktuelle Gegebenheiten. Ist ein Schüler zu geschwächt, kann ein Unterricht abgesagt oder umgewandelt werden. Zwischen Lehrkräften und Patienten entstehen enge Bindungen.

Am 1. August 1974 beschloss der Rat der Stadt Krefeld die Gründung der Krankenhausschule im Klinikum Krefeld. Mit den Jahren erweiterten sich zunächst sowohl der Zuständigkeitsbereich auf weitere Krankenhausstandorte als auch das Kollegium. Gesundheitsreformen in den 80er- und 90er-Jahren sowie medizinische Fortschritte sorgten fortan für einen Rückgang der Patientenzahlen. Im Jahr 2000 rückte mit der Gründung der LVR-Tagesklinik dann eine neue Zweigstelle ins Wirkungsfeld der Christophorusschule. Zur Jubiläumsfeier am Freitag, 20. September, in der Villa Sonnenschein des Fördervereins zugunsten krebskranker Kinder hatten Boris Bertram und seine Kolleginnen einen geschichtlichen Durchlauf zusammengestellt. 50 zu Postern umgestaltete Zeitungsartikel aus 50 Jahren Christophorusschule führten durch eine ereignisreiche Historie. „Wir hatten ein schönes und auch berührendes Jubiläumsfest”, sagt Boris Bertram. Arzt- und Pflegepersonal des Helios-Klinikums und der LVR-Tagesklinik, ehemalige Kollegen sowie Schülerinnen und Schüler der Tagesklinik feierten den runden Geburtstag, Bürgermeisterin Gisela Klaer gratulierte im Namen der Stadt Krefeld. Für Andrea Behling war der Anlass aus mehrerlei Hinsicht besonders: Die Lehrerin der Christophorusschule ist die Tochter Norbert Wystrachs. Er war ab 1974 der erste Rektor der Schule und leitete sie bis zur Pensionierung im Jahr 2000.

„Ich freue mich auf den Unterricht”

Carla Seel hat sich für die Mathestunde mit Nico einen medizinischen Kittel angelegt und eine FFP2-Maske aufgesetzt. Obwohl sich die beiden – Sommerferien gelten auch für eine Klinikschule – erst seit wenigen Wochen kennen, gehen sie vertraut miteinander um. Die Christophorusschule verfolgt das Konzept der Bezugslehrer. Carla Seel unterrichtet Nico für jeweils 90 Minuten. „Auch, wenn ich nicht jeden Tag Lust auf binomische Formeln habe”, scherzt Nico, „freue ich mich immer sehr auf den Unterricht. Nicos Leben schlug kurz vor den Sommerferien um. Bei einem Routinebesuch fragte er seinen Hausarzt, ob er ihm den Knubbel an seinem Schlüsselbein erklären könne. Wenige Tage später stand die Diagnose, die zum Glück mit guten Heilungschancen verbunden ist. Seit Anfang August ist Nico im Helios-Klinikum in Behandlung. Zwei Operationen folgte die sofortige Chemotherapie. Sie ist unterteilt in mehrere Blöcke à 15 Tage. Zwischen diesen Therapieabschnitten kann sich Nico zu Hause erholen.

Aktuell befindet er sich im zweiten Block. Das „Teufelszeug”, wie Nico die Chemo-Medikamente bezeichnet, hat immense Auswirkungen auf den hochgewachsenen, sportlichen jungen Mann. Extreme Übelkeit, starke Gelenkschmerzen, am Anfang war da noch die strapaziöse Schlaflosigkeit. Als er vor ein paar Wochen merkte, dass ihm seine Haare ausfielen, ließ er sich den ganzen Kopf rasieren. „Dieser Moment hat mich fertiggemacht. Da hatte ich Tränen in den Augen”, sagt Nico, der sich seiner derzeitigen Lebenssituation beeindruckend angenommen hat. Er sei von Grund auf ein tiefenentspannter Typ. Das lässt sich er sich durch den Krebs nicht nehmen. Vor Weihnachten kann Nico nicht in seine Regelschule zurückkehren. Nach der Therapie wird sein Immunsystem für mindestens zwei Monate weiterhin derart geschwächt sein, dass er sich umfassend schützen muss. Deshalb hat er sich jüngst entschieden, erst im nächsten Schuljahr in die fürs Abitur besonders wichtige zwölfte Jahrgangsstufe einzusteigen. So nimmt er sich selbst einen gewissen Druck. Und über die Klinikschule hat er dennoch die Möglichkeit, im Stoff zu bleiben. Wann genau er aus der Klinik entlassen wird, weiß Nico noch nicht. Ein wenig hofft er auf Ende Oktober, dann endet der dritte Therapieblock. Zwei Tage vor diesem taxierten Entlassungstermin wird Nico 17 Jahre alt. Es wäre das bestmögliche Geburtstagsgeschenk.

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