(Foto: Bistum Münster)
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Münster. Den Geschmack hat er bis heute nicht vergessen: „Einfaches Brot mit Sonnenblumenöl und etwas Salz – das ist die beste Delikatesse, die man sich vorstellen kann.“ Gebacken haben das Brot Boris Zabarkos Mutter und Großmutter im Ghetto von Scharhorod in Transnistrien, nachdem sie das Mehl in einem Kissenbezug hineingeschmuggelt hatten.

Es waren Erinnerungen wie diese, die den über 500 Zuhörenden im St.-Paulus-Dom den Atem anhalten ließen. Boris Zabarko, bald 89 Jahre alt, ist ukrainischer Jude, Holocaust-Überlebender und Historiker. In mehr als 200 Büchern und Artikeln hat er die Vernichtung der Juden in seinem Land aufgearbeitet. Am Mittwochabend war er auf Einladung der Universität Münster in den Dom gekommen, um seine persönliche Geschichte zu erzählen.

Im Vergleich zu vielen anderen jüdischen Kindern habe er noch Glück gehabt, berichtete Zabarko. „Meine Familie gehörte zu jenen, die nicht vergast oder erschossen wurden. Doch an die Umstände, unter denen wir leben mussten, mag man sich lieber nicht erinnern.“ In den Häusern im Ghetto habe es keinen Strom, keine Heizung und keine Toilette gegeben. „Die einzige Toilette war draußen, aber nachts zwischen 18 und 8 Uhr war Ausgangssperre.“ Wer um diese Zeit im Freien erwischt wurde, habe um sein Leben fürchten müssen.

Über 7.000 ukrainische und rumänische Juden lebten damals im Ghetto von Sharhorod. In einem Winter, erinnerte sich Zabarko, habe es eine schlimme Typhus-Epidemie gegeben. „Die Leute sind in Massen gestorben und wegen des vereisten Bodens hatte man keine Möglichkeit, sie vernünftig zu beerdigen.“ Man habe die Leichen nackt am Friedhof aufgestapelt. Die Kleidung der Toten sei entweder selbst angezogen oder als Tauschware verwendet worden. Erst im darauffolgenden März sei der Boden so weit aufgeweicht gewesen, dass man Gräber ausheben konnte.

Dass das jüdische Volk damals komplett ausgelöscht werden sollte, sei zwar die Entscheidung Hitlers und der Nazi-Führung gewesen, sagte Zabarko. Doch diese hätten Unterstützung aus anderen Ländern gehabt, in denen der Antisemitismus eine ähnlich große Rolle gespielt habe. „Auch in der Ukraine gab es Unterstützer in der Bevölkerung, die sich an Pogromen gegen die Juden beteiligt haben“, erinnerte er sich. „Die gesamte Welt hat dazu geschwiegen und wir Juden waren alle einsam.“

Zabarko, der im März 2022 kurzzeitig aus Kyjiw nach Stuttgart geflohen war, zog einen Vergleich zur heutigen Situation in seinem Heimatland: „Für mich ist es der zweite Krieg in meinem Leben. Die Ukraine spielt die gleiche Rolle wie die Juden damals: sie soll vernichtet werden.“ Doch die Ukraine sei heute nicht allein. Europa, die USA, die gesamte westliche Welt leiste Unterstützung. Für diese Solidarität sei er sehr dankbar. „Ohne diese Hilfe sähe es schlecht aus für die Ukraine.“

Nach seinem Vortrag erhoben sich die Zuhörenden im St.-Paulus-Dom, um Boris Zabarko für sein Zeitzeugnis zu danken. Viele von ihnen nutzten anschließend die Gelegenheit, ihren Dank im persönlichen Gespräch auszudrücken oder ein Erinnerungsfoto mit dem Gast aus der Ukraine zu machen.

Der Besuch Zabarkos in Deutschland findet im Rahmen eines Projekts für Menschlichkeit und gesellschaftliche Verantwortung auf Initiative der Schulseelsorge Ibbenbüren statt. Noch bis zum 15. November ist in der dortigen Erna-de-Vries-Gesamtschule die Ausstellung „Gegen das Vergessen“ zu sehen. Seit 2014 porträtiert der Fotograf Luigi Toscano für diese Ausstellung Überlebende des Holocaust und macht ihre Lebens- und Leidensgeschichten anschaulich. Auch Boris Zabarko gehört zu den Porträtierten. Mehr Informationen: www.katholisch-ibb.de/gegen-das-vergessen

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