Essen. Rund 1000 Jahre lang diente der Kreuzgang am heutigen Essener Dom den Stiftsfrauen als Ort der Besinnung. Heute ist der Kreuzgang immer noch ein Ort der Ruhe in der lauten Innenstadt – und seit einigen Jahrzehnten die Grabstätte des Essener Domkapitels. Ein besonderer Friedhofsbesuch.
Egal, ob beim Weihnachtsmarkt, beim Stadtfest „Essen.Original“ oder an einem ganz normalen Shopping-Samstag: Allen, denen es in der Essener Innenstadt zu bunt, zu laut oder zu stressig wird, finden im Kreuzgang neben dem Essener Dom Ruhe. Für viele ist das Geviert aus steinernen Umgängen, in dem schon die mittelalterlichen Stiftsfrauen spaziert sind, ein grüner und regensicherer „Chill-Out“-Bereich zwischen Rathaus, Kennedy- und Burgplatz. Doch unter der Rasenfläche verbirgt sich auch der mittlerweile einzige aktive Innenstadt-Friedhof der Ruhrmetropole – und das erst seit einigen Jahrzehnten. Nicht nur wegen der besonderen Citylage bringt diese letzte Ruhestätte einige Besonderheiten mit sich, mit denen sich Dombaumeister Ralf Meyers auskennt.
„Die erste Besonderheit: Der Kapitelsfriedhof ist ein besonders geschütztes Bodendenkmal“, erklärt Meyers. Zum einen, weil die heutige Stadt Essen rund um den Dom und das vom Heiligen Altfrid um das Jahr 850 gegründete Frauenstift entstanden ist. Zum anderen, weil bereits während der vorrömischen Eisenzeit – also vor rund 2000 bis 2750 Jahren – nachweislich Menschen hier gesiedelt haben. Deshalb ist der Denkmalschutz immer mit dabei, wenn im Kreuzgang gegraben wird – was für den Betrieb eines Friedhofs eher unpraktisch ist. Aber das war in den 1960er Jahren, als man erstmals über die Einrichtung dieses Friedhofs nachgedacht hat, wohl noch kein ganz so großes Thema.
Stiftsfrauen orientierten sich an Klosterarchitektur
Den Kreuzgang gibt es, weil sich die Stiftsfrauen architektonisch an Klöstern orientiert haben, wo Kreuzgänge seit dem Mittelalter zum Standard gehören. Dass aber rund 1000 Jahre nach Bau des ersten Essener Kreuzgangs dort ein Friedhof eingerichtet wurde, liegt an der erst 1958 erfolgten Gründung des Bistums Essen. Denn damit wurde die Münsterkirche zur Bischofskirche, zur Kathedrale – eben zum Essener Dom. Und in einem solchen Dom gibt es nicht einfach nur einen Pfarrer, der Gottesdienste, Konzerte und ähnliches organisiert, sondern ein ganzes Domkapitel – eine Gruppe von Priestern, die sich um den Dom, die Schatzkammer, die Dommusik und ähnliche Einrichtungen kümmern. Diese Priester haben das Recht, an ihrer Domkirche bestattet zu werden.
Nun gab es im Laufe der Jahrhunderte – wie bei fast jeder größeren Kirche – auch rund um den Essener Dom verschiedene Friedhöfe. Vor allem auf dem heutigen Burgplatz und dem angrenzenden Domhof wurden seit dem Mittelalter bis zum Jahr 1827 tausende Menschen beerdigt. „Auch im Atrium des Doms wurde bestattet“, weiß Dombaumeister Meyers. Im Innenhof zwischen Dom und Anbetungskirche St. Johann fanden die Priester eine Ruhestätte, die zu Lebzeiten für die Seelsorge im Frauenstift zuständig waren. Heute ist im Atrium oft ein so reger Betrieb, dass man sich einen Friedhof dort nicht mehr vorstellen mag. Zudem wurde dort Anfang der 1980er Jahre die unterirdische Adveniat-Krypta angelegt – als Grablege für die Essener Bischöfe.
Kapitelsfriedhöfe in Kreuzgängen sind nicht ungewöhnlich – nur selten so jung
„Dass man Domkapitulare im Kreuzgang eines Doms bestattet, ist keineswegs unüblich“, lenkt Dombaumeister Meyers den Blick wieder auf den Kreuzgang und verweist auf prominente Beispiele am Dom von Paderborn, Trier oder Münster. Ungewöhnlich im Vergleich zu diesen jahrhundertealten Vorbildern ist eben nur die kurze Geschichte des Essener Kapitelsfriedhofs. Warum haben dann nicht auch Klöster und Stifte ihre Toten an so einem repräsentativen Ort bestattet? „Da war meist der Klostergarten, wo Gemüse und wichtige Küchen- und Arzneikräuter angebaut wurden“, gibt Meyers zu bedenken.
Gerade die Zerfalls- und Verwesungsprozesse stellen auf dem Essener Kapitelsfriedhof von Beginn an eine Herausforderung dar – einem privaten Friedhof, der den Regeln des NRW-Bestattungsgesetzes unterliegt. „Am Anfang wurden die Menschen hier in verlöteten Zinksärgen bestattet“, berichtet Meyers. Auf so engem Raum inmitten der Großstadt wollte man offenbar kein Risiko eingehen. Mittlerweile hat sich die Technik weiterentwickelt, und das Domkapitel hat an verschiedenen Stellen Betonquader in den Boden einbauen lassen, die als ausgeklügelte Fertig-Grüfte funktionieren: Unter 25 Zentimeter Grasnarbe verborgen, werden diese bei Bedarf geöffnet und bieten – getrennt durch eine Platte – für zwei Särge übereinander Platz. „Wenn möglich schauen wir da schon mal, wer gut zu wem passt“, sagt Meyers. So habe es nicht nur am zeitlichen Zusammentreffen gelegen, dass der am 3. April 2022 im Alter von 103 Jahren verstorbene frühere Dompropst Ferdinand Schulte-Berge sich nun eine Gruft mit dem fünf Tage später verstorbenen Ehrendomherrn Gerd Lohaus teilt – die beiden hat man auch zu Lebzeiten oft gemeinsam zum Beispiel in der Bistumskantine gesehen. Und bei dem am 23.7.2019 verstorbenen ehemaligen Dompropst Günter Berghaus und seinem am 29.10.2022 verstorbenen Nachfolger als Chef der Domverwaltung, Otmar Vieth, sei wohl das gemeinsame Amt die Verbindung, die die beiden nun auch eine Gruft teilen lässt.
Fünf Bestattungen in einem Jahr – das ist viel für einen kleinen Friedhof
Überhaupt, das Jahr 2022: „Da hatten wir fünf Bestattungen“, erinnert sich Meyers, „das hat uns schon herausgefordert“. Schließlich ist der Kapitelsfriedhof nur ein kleiner Friedhof – der im vergangenen Jahr wegen des plötzlich beanspruchten Platzbedarfs noch einmal deutlich erweitert wurde. Nicht in der Fläche, sondern in der Tiefe: Dank fünf neuer Fertig-Grüfte mit je zwei Plätzen dürften mögliche Kapazitätssorgen vorerst beendet sein. Zudem sind die unterirdischen Beton-Einfassungen nicht nur für Bestattungen praktisch, sondern gefallen auch dem Denkmalschutz: Bevor die Grüfte im vergangenen Jahr eingebaut wurden, konnte ein Archäologie-Team ausgiebig den Bodenaushub sowie die entstandene Grube untersuchen und dokumentieren. Ein paar Puzzleteile der mittelalterlichen Stiftsgeschichte förderten die Forschungsteams dabei zutage, zum Beispiel einen Mosaikstein und einen Schmuck-Anhänger.
Die besondere Lage des Kreuzgangs bringt es mit sich, dass es auf dem Kapitelsfriedhof deutlich lebhafter zugeht als auf anderen Grabfeldern. Auswärtige Gäste machen von den Rasenflächen aus Fotos vom Dom, mehrmals in der Woche lädt die Cityseelsorge „grüßgott“ hier zu Kaffee und Gesprächen ein und im Sommer ziehen die Lunchkonzerte mittags ein großes Publikum in die schattigen Gänge – reger Besuch, über den sich Dombaumeister Meyers von Herzen freut: „Es ist schön und wichtig, dass dieser Ort so intensiv genutzt wird. Denkmäler können nur erhalten werden, wenn sie einen Nutzen haben.“ Und dann zeigt er noch auf den krumm und schief gewachsenen Baum, der an einer Ecke des Kreuzgangs die Symmetrie der Rasenflächen aufbricht. „Die Esche hat man eigentlich gepflanzt, weil man mal dachte, der alte Essener Name ,Astnide‘ bedeute ,Eschengrund‘.“ Diese Theorie hat sich bezüglich der Wortherkunft zwar mittlerweile überholt. Aber der Baum steht immer noch dort, hat im Zweiten Weltkrieg Bombennächte, Feuersbrünste und die Zerstörung von Dom und Kreuzgang überstanden. „Wir hegen und pflegen ihn“, sagt der Dombaumeister. Und spätestens im Sommer wird die Esche wieder einen heiß geliebten Nutzen haben – als attraktiver Schattenspender an dem Ort, an dem Essen einmal angefangen hat.
INFO: Die Architektur des Essener Kreuzgangs
Schon neben der ersten Kirche des Essener Frauenstifts gab es einen kleineren Kreuzgang, der im 10. und 11. Jahrhundert vergrößert wurde. Nach dem großen Brand des heutigen Doms von 1275 baute man den Kreuzgang bis in das 14. Jahrhundert hinein wieder auf. Danach verfiel er – und wurde im 19. Jahrhundert weitgehend erneuert, der Nordflügel wurde jedoch abgerissen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden der Südflügel, der an den Dom angrenzt, und der Westflügel, in dem die Namen aller Essener Äbtissinnen sowie der Essener Bischöfe verzeichnet sind, im Stil des 19. Jahrhunderts wiedererrichtet. Zudem wurde ein neuer Nordflügel ergänzt. Somit ist heute nur noch im Ostflügel, in dem Bildtafeln die Dom-Geschichte erläutern, die mittelalterliche architektonische Gliederung erkennbar.