Tülay Yavuz (r.) und Cornelia Erlemeyer (l.) arbeiten gut zusammen. Die Elternpflegschaftsvorsitzende bietet zweimal pro Woche Leseförderung in der 2. Klasse an (Foto: Caritas fuer das Bistum Essen)
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Mülheim an der Ruhr. In Familiengrundschulzentren erhalten Eltern und Kinder in sozial benachteiligten Stadtteilen direkten Zugang etwa zu Sprachförderung, Beratung in Gesundheitsfragen sowie zu kulturellen Angeboten. Die Brüder-Grimm-Schule in Mülheim an der Ruhr ist solch eine Anlaufstelle für Familien, eine Initiative für chancengerechte Bildung – ganz im Sinne des Welttags der Bildung, den die UNESCO für den 24. Januar ausgerufen hat.

Emin (9) hat noch nicht richtig Lust, mit dem Basteln loszulegen. “Ich will das zusammen mit meiner Mama machen”, sagt er. Doch die lässt auf sich warten. Er könnte ja schon mal anfangen, aber “Basteln ist nicht so mein Ding”, verrät er. Rund 40 Kinder, Eltern, Großeltern und Geschwister sind an diesem Nachmittag in die Werkräume der Brüder- Grimm-Schule in Mülheim-Styrum gekommen, um gemeinsam zu basteln. “Nach einer ersten Abfrage hatten wir nur mit zwölf Anmeldungen gerechnet”, freut sich Tülay Yavuz über das große Interesse. Die 47-jährige Diplom-Sozialarbeiterin leitet seit zwei Jahren das Familiengrundschulzentrum in Trägerschaft der Caritas.

Schwerpunkt Elternarbeit

“Mein Schwerpunkt ist die Elternarbeit”, sagt Yavuz. Für sie sind die Eltern der Schlüssel zum Bildungserfolg der Kinder: “Studien haben gezeigt, dass der Lernerfolg der Kinder steigt, wenn die Eltern sich schulisch mit einbringen und das Lernen ihrer Kinder aktiv begleiten.” Immer wieder werde kritisiert, dass Bildungschancen in Deutschland stark von der sozialen Herkunft abhingen. Wer daran etwas ändern wolle, müsse die Familien stärken, so Yavuz. Deswegen setzt das Konzept der Familiengrundschulzentren genau dort an – bei den Eltern. Ziel ist es, Eltern in ihrer Rolle als Bildungsbegleiterinnen und -begleiter ihrer Kinder zu stärken – insbesondere in einem von Armut und Zuwanderung geprägten Umfeld wie Styrum.

Von der Leseförderung bis zum Tanzworkshop

“Und das klappt hier ganz gut”, findet Yavuz. Elternpflegschaftsvorsitzende Cornelia Erlemeyer (43) pflichtet ihr bei. Die alleinerziehende Mutter zweier Söhne ist voll des Lobes: “Das Familiengrundschulzentrum organisiert Ehrenamtliche und fördert die Hilfsbereitschaft untereinander.” Der Start 2021 mitten in der Corona-Zeit sei nicht einfach gewesen, “aber wir Eltern sehen, dass wir die Kinder auf diese Weise stärken und unterstützen können”. Denn das Besondere an den Aktivitäten des Familiengrundschulzentrums ist, dass sie fast ausschließlich ehrenamtlich von Eltern getragen werden.

Auch Yavuz war überrascht, welche Ressourcen in den Familien schlummern, die erst durch Gründung des Familiengrundschulzentrums ans Tageslicht gekommen sind. Mittlerweile gibt es einen Töpferkurs, einen Nähkurs, Leseförderung, Bastelnachmittage, ein Elterncafé und einen Tanzworkshop, der von einem Vater geleitet wird. Eine Gruppe von Müttern verabredet sich in unregelmäßigen Abständen zum Kochen internationaler Gerichte. Yavuz selbst bietet eine offene Sprechstunde an – sie berät, plant, vernetzt und organisiert. Mehr, so sagt sie, würde sie mit ihrer halben Stelle auch nicht schaffen.

Familien lernen Schule kennen

“Ich finde es toll, dass die Kinder mit ihren Familien eingeladen sind, dabei zu sein. Hier an der Schule kann man Familie leben und erleben, und die Familie lernt auch die Schule kennen”, sagt Erlemeyer. Bis zur Geburt ihres ersten Kindes hat sie Lehramt studiert: Französisch und Spanisch. Dann hatte sie dafür keine Zeit mehr. Mittlerweile ist sie alleinerziehend, hat nebenbei einen Minijob und studiert Bildungswissenschaften. Ihr Sohn steht auf der Warteliste für einen Platz in der Offenen Ganztagsbetreuung (OGS).

Tülay Yavuz weiß, für wie viele Familien die Betreuung am Nachmittag existenziell ist, aber auch, unter welchem personellen und zeitlichen Druck die Kolleginnen und Kollegen in der OGS stehen: “Das System ist sehr auf Kante genäht. Wir haben im OGS-Bereich einen hohen Krankenstand und sind aufgrund der Stellenreduzierungen, die es in den vergangenen Jahren gab, unterbesetzt. Das macht sich auch im Alltag bemerkbar.” Für solche Kurse und Fördermöglichkeiten, wie sie das Familiengrundschulzentrum biete, gebe es in der OGS schlicht keine Kapazitäten.

Das System OGS ist „auf Kante genäht“

“Das Familiengrundschulzentrum ergänzt die OGS, genau wie die Schulsozialarbeit”, erläutert Yavuz. Freitags trifft sich das Leitungsteam der Schule zur Besprechung. Dazu gehört neben der Schulleitung, der OGS-Leitung und der Schulsozialarbeiterin auch Tülay Yavuz. “Wir gehen alle Themen in einem multiprofessionellen Team an.” Auch an den regelmäßigen Dienstbesprechungen des Lehrerkollegiums nimmt Yavuz teil. Vernetztes Arbeiten sei wichtig für den Erfolg, ist die Sozialarbeiterin überzeugt.

Denn manche Förderangebote finden, auf den Unterricht bezogen, vormittags statt, wie beispielsweise die Leseförderung oder der “Frühstücksführerschein”, den die Eltern anhand didaktischer Materialien zusammen mit den Kindern erarbeiten. “Dabei lernen die Kinder spielerisch die Ernährungspyramide kennen, und die Eltern bekommen einen Einblick, was ein gesundes Frühstück ausmacht”, erklärte Yavuz. Bei den insgesamt zehn Treffen geht es ganz praktisch zu: Kinder und Eltern bereiten das Frühstück gemeinsam zu, schnippeln Gemüse und Obst und schmieren Brote. Zum Abschluss bekommen alle Kinder den “Frühstücksführerschein” überreicht.

„Wir leben Vielfalt“

Mit dem Familiengrundschulzentrum hat sich die Brüder-Grimm-Schule zu einem Ort der Begegnung, Beratung und Bildung für Kinder und ihre Familien entwickelt. Die Schule ist im Stadtteil zu einer Anlaufstelle für Familien geworden, zu einem Knotenpunkt, der Eltern und Kinder unterschiedlicher Herkunft, Religion und Kultur zusammenbringt. Tülay Yavuz sieht das positiv: “Wir haben mehr als 30 Nationen an unserer Schule vertreten, unter anderen Flüchtlingsfamilien aus Syrien und aus der Ukraine. Unser Motto ist: Wir zeigen Vielfalt und wir leben Vielfalt.” Konflikte gebe es nicht, eher Solidarisierungseffekte. So habe sich eine russische Mutter bereit erklärt, einmal in der Woche ukrainischen Flüchtlingskindern vorzulesen, berichtet die Sozialarbeiterin.

Ob es all diese Initiativen in einem Jahr auch noch geben wird, ist ungewiss. Die Förderzusage des Landes Nordrhein-Westfalen für Personal- und Sachkosten bezieht sich nur auf drei Jahre. Ihre Schule ohne das Familienzentrum wollen sich Yavuz und Erlemeyer lieber nicht vorstellen: “Wir haben so viel aufgebaut. Das wäre sehr traurig!”

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