Uwe Schummer und Bundeskanzlerin Angela Merkel (Archiv: Uwe Schummer)
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Berlin/Willich/Rhein-Ruhr. Es war die zehnte, aber die erste freie und geheime Volkskammerwahl im März 1990. Als Pressesprecher der CDA-Deutschlands erhielt ich den Auftrag für den Demokratischen Aufbruch (DA), eine Bürgerrechtsgruppe aus der friedlichen Revolution der DDR, 25 Computer im Kleinbus nach Berlin zu fahren. Der DA war im Ostberliner „Haus der Demokratie“ untergebracht. Eine Reise in das Abenteuerland, in dem so viel revolutionäres, aufbrechendes und urdemokratisches geschah.

Dort angekommen empfing uns eine unscheinbar wirkende schmächtige Frau mit Prinz Eisenherz-Frisur. Wir wurden uns kurz vorgestellt. Sie war meine Kollegin, die Pressesprecherin des DA, Angela Merkel. Small Talk war nicht unsere Stärke. Wir luden die Computer aus, die dann in die Wahlkreise zu den DA-Gruppen weiter transportiert wurden. Angela Merkel installierte nacheinander jedes Gerät und testete, ob und wie sie funktionieren. Ruhig, entspannt mit großer Geduld. Ich war natürlich froh, dass ich mit anderen Mitstreitern in das wilde Treiben des wieder vereinigten Berlins eintauchen durfte. Am nächsten Tag besprachen wir Termine, die wir vor Ort für den DA im Rahmen des Wahlkampfes übernehmen würden.

Angela Merkel ist von Geburt an aus Hamburg. Geboren am 17. Juli 1954 als Angela Dorothea Kasner. Doch schnell zieht es ihre Eltern nach Brandenburg, wo sie in Quitzow eine Pfarrstelle übernehmen. Ihr Vater als evangelischer Pfarrer, ihre Mutter als Lehrerin. Ihre protestantische Prägung zeigen viele ihrer Reden. Wenn sie ihre Gefühle von 1989 beschreibt und der sie antreibende Hinweis: „Geh`ins Offene“ oder ihr Appell auf einer Bundespressekonferenz als Christen haben wir doch eine „frohe Botschaft“. Zeigen wir diese Freude. Ihr „Wir schaffen dass, wir haben schon so vieles geschafft“, steht in der gleichen christlich-optimistischen Haltung.

Nachdem Wolfgang Schnur als Vorsitzender des DA kurz vor der Volkskammerwahl zurücktreten musste – er hatte seine Stasi-Kontakte verheimlicht und Bürgerrechtler an die Stasi verraten – führte Pfarrer Eppelmann den ökologisch-sozialen DA in die „Allianz für Deutschland“ mit der Ost-CDU. Angela Merkel wurde Regierungssprecherin. Dabei war die Lage der DDR ernster als angenommen. „Wir haben die Probleme unter- und unsere Kräfte überschätzt“, sagte mir Reiner Eppelmann auf vielen Fahrten, die wir gemeinsam durch das größer gewordene Deutschland unternahmen. So war die Lebenserwartung in der DDR 1989 drei Jahre niedriger als in der Bundesrepublik. Eine hohe Kindersterblichkeit war der Preis einer die Umwelt und die in ihr lebenden Menschen bedrückende Wirtschaftsform. 1995 wurden die Altlasten der DDR mit umgerechnet mehr als eine Billion Euro kalkuliert. In den ostdeutschen Ländern lebten fünf Millionen evangelische und 1,2 Millionen katholische Christen. Die „Norm“ war der Atheismus. Als Christ in einem atheistischen Land zu leben prägt Angela Merkel. Die wissenschaftlich solide Grundlage ist ihr wichtiger als Pathos, Weihrauch und der emotionale Auftritt mit Klatschmarsch.

Intensiver wurde mein Kontakt zu ihr mit meinem Einzug in den Deutschen Bundestag 2002. Erst in der Opposition, dann als Fraktionsvorsitzende der Union. 2006 dann die eigene Kanzlerschaft. Als ich aus dem Parlament heraus mit den Sozialdemokraten eine Novellierung des Berufsbildungsgesetzes anstrebte, kamen Mitarbeitende aus Fraktion und Länderministerien die meinten mich zurechtweisen zu können. Ein Hinweis an Angela Merkel und ich konnte das Projekt 2005 mit meinem SPD-Kollegen durch Bundestag und Bundesrat bringen. Als Fraktionsvorsitzende zeigte sie: Abgeordnete sind frei gewählt und nicht die Lakaien der Ministerialbürokratie. Oft war die Fraktion mit den Ergebnissen der Koalitionsrunden unzufrieden. Sie wurde zu Nachverhandlungen geschickt. Das Märchen einer Alleinherrschaft beleidigt nicht nur die demokratische Kultur unseres Parlamentes, sondern auch die der Unionsfraktion in dieser Zeit. Ihre Nähe zu den Zukunftsthemen zeigt der massive Aufwuchs der Mittel für Bildung und Forschung von 2005 mit 7,5 bis 2021, zwanzig Milliarden Euro. Für sie kein „Gedöns“, sondern Zukunftsthemen.

Mit kreativer Wirtschaftspolitik führte sie Deutschland nach der Bankenkrise 2008 in einen 12jährigen Wirtschaftsaufschwung. Umstritten war die „Verschrottungsprämie“ für alte Autos um den Kauf umwelttechnisch verbesserter Autos anzukurbeln. Eine der besten Entscheidungen, sicher die steuerlich Befreiung der Arbeitskosten im Handwerk gegen die Schwarzarbeit. Die Arbeitslosigkeit, die Angela Merkel mit 5,2 Millionen von ihrem Vorgänger übernahm, halbierte sie bis 2019 auf 2,2 Millionen. Maßgeblich war dabei ihr Beharren auf den Zusammenhalt der Eurogruppe. Ohne den europäischen Binnenmarkt und die gemeinsame Währung, den Schuldenabbau und die Investitionen in die Zukunftsthemen wäre dieser Merkel-Prozess nicht in Gang gekommen. Die Legende, dass allein die „Hartz-Gesetze“ dies verursacht hätten ist ein Treppenwitz der Geschichte. Sie wurden nach dem Regierungswechsel von 2006 über sechzig mal korrigiert bis sie überhaupt wirken konnten. 2020 zeigte sie ihre Geduld, wenn sie immer wieder im Diskurs mit den Ministerpräsidenten und der Wissenschaft die Pandemie und ihre Risiken erklärte. Als Vorsitzender der CDU/CSU-Arbeitnehmergruppe im Deutschen Bundestag hatte ich mit ihr intensive Gespräche über die weitere soziale Entwicklung. Sie fühlte sich von Anfang an der Arbeitnehmergruppe zugehörig. Wirtschafts- und Sozialordnung sind eben keine Gegensätze; sie bedingen einander. Ihr war klar: Neben den großen Themen ist die soziale Frage einer Familie immer zentral für das Heimatgefühl in einer Demokratie.

Die europäische Idee hatte sie von Helmut Kohl übernommen. Er hatte die Grenzen geöffnet; sie wollte sie nicht schließen was ihr auch von der Wirtschaft abgeraten wurde. Die von uns in der Euphorie des Mauerfalls bejubelte „Friedensdividende“ war jedoch aufgebraucht. Bis zuletzt lag ihr daran, den „russischen Bären“ zu befrieden und nicht zu reizen. Als Putins bester Mann im „Weißen Haus“ residierte und die NATO als „obsolet“ bezeichnete, unternahm ich für die Unionsfraktion eine Delegationsreise nach New York. Bei einem der Gespräche mit einem US-Gewerkschafter nahm mich dieser zur Seite und sagte: Grüßen Sie Angela Merkel. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, schaue ich nach, ob sie noch Kanzlerin ist. Wenn ja, dann bete ich zu Gott, dass sie es noch lange bleiben möge. „She is the leader of the free world.“ – Mein letztes Treffen mit Angela Merkel war 2023 anlässlich des achtzigsten Geburtstages von Rainer Eppelmann in Berlin. Alle saßen in überschaubaren Kreisen im Gebäude der „Stiftung für die Aufarbeitung des SED-Unrechts“ beieinander. Bis einige unruhig wurden. Die Altkanzlerin kam herein und setzte sich: Ohne Aufhebens und Attitüde, keine Rede, eine politische Freundin bei Freunden.

Von Uwe Schummer

Uwe Schummer, MdB von 2002 bis 2021 (Foto: Christian Thiel)
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