v.l. Lisa Lichtenstein (Aktion Menschenstadt und Mitglied der Projektgruppe), Thomas Kufen (Oberbürgermeister der Stadt Essen), Daniela Keil (Aktion Menschenstadt und Mitglied der Projektgruppe), Uli Briehn, (Interviewpartner und Mitglied der Projektgruppe) und Pfarrerin Christine Stoppig (Leiterin der Aktion Menschenstadt) (Foto: Kirchenkreis Essen/Alexandra Roth)
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Essen. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland berichten Essenerinnen und Essener in einem neuen Buch von ihren persönlichen Erfahrungen mit dem Thema Inklusion. Vorgestellt wurde „Bin auch ’n Mensch“ am Donnerstag (13.01.) bei einem Besuch im Essener Rathaus: Mitglieder der Aktion Menschenstadt, des Behindertenreferats der Evangelischen Kirche in Essen, überreichten Oberbürgermeister Thomas Kufen das erste Exemplar.

Seit 2009 gilt das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ der Vereinten Nationen auch in Deutschland. Das zehnjährige Jubiläum der UN-Behindertenrechtskonvention vor drei Jahren hat die Aktion Menschenstadt, das Behindertenreferat der Evangelischen Kirche in Essen, zum Anlass genommen, ein Schreibprojekt zu starten: In 32 Interviews schilderten Betroffene und ihre Angehörigen, Begleiterinnen und Begleiter, Lehrkräfte, Politikerinnen und Politiker ihre ganz persönlichen Erfahrungen, die sie in Essen beim Umgang mit den Themen Behinderung und Inklusion gesammelt haben. Herausgekommen ist das 240 Seiten starke Buch „Bin auch ’n Mensch“ mit vielen berührenden Geschichten und ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Porträts von Paul Walther; die Audiofassung wurde u.a. von Kabarettist Jochen Malmsheimer eingesprochen. Um die Authentizität zu wahren, wurden die Texte bewusst nicht in die leichte Sprache übersetzt; sie sind aber einfach und verständlich geschrieben. Schwierige Begriffe werden in einem Anhang erklärt.

Vergebliche Bemühungen, nicht erfüllte Träume

Viele der im Buch enthaltenen Schilderungen lassen erahnen, wie mühselig und gebrochen die Lebenswege von Menschen mit Behinderungen häufig sind – und das etwa nicht, weil die Betroffenen nicht willens oder in der Lage wären, sich fortzubilden, einen Arbeitsplatz zu finden, Beziehungen einzugehen, sich ein erfüllendes Lebensumfeld zu organisieren und an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen: Es sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und es sind unsere konkreten Bildungs-, Wohn-, Arbeits- und Freizeitangebote, die nicht so organisiert sind, dass sie Menschen mit Behinderungen eine echte gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen. Deshalb erzählt ein Teil des Buches von (zunächst) vergeblichen Bemühungen und nicht erfüllten Träumen. Von der Trauer, keinen Kontakt zum eigenen Sohn zu haben. Von der Schwierigkeit, die passende Kindertagesstätte oder eine geeignete Ausbildungsstätte außerhalb von Förderschule und klassischer Werkstatt zu finden. Und vom ganz normalen Scheitern an Barrieren, wo Stadtplaner und Architekten einfach nicht an die besonderen (besser: ganz normalen) Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung gedacht haben. Wo der Politik die Spielräume und den Behörden das Geld vielleicht im entscheidenden Moment gefehlt hat. In diese Wunde legt die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ihren Finger – und es ist ein wichtiges Verdienst des Buches, dass die Leserinnen und Leser diese Wunde spüren und erkennen: Das Problem ist nicht das persönliche Handicap, jedenfalls nicht das wichtigste. Es sind vor allem die Steine, die unsere Gesellschaft Menschen mit Behinderung in den Weg legt und die ihr Leben und ihren Alltag zusätzlich erschweren, ob beim Nahverkehr, auf dem Wohnungsmarkt oder durch einen herablassenden Blick, mit dem wir ihnen begegnen.

Aus der Nähe entsteht Respekt

Weil die Interviews von Menschen geführt werden, die den Betroffenen, ihren Angehörigen, Begleiterinnen und Begleitern nahestehen, und die Interviewten ihnen ihre Herzen öffnen, kommen auch wir ihnen sehr nahe. Und aus der Nähe entsteht Respekt. „Bin auch ’n Mensch“ ist im Grunde ein Mutmach-Buch. Wieviel persönliche Stärke, wieviel „Trotzdem“ war am Ende nötig, damit Menschen mit Behinderung diesen oder jenen Weg gehen konnten, gegen alle Widerstände? Damit sich Anja Dowidat sich nach einem langjährigen Rechtsstreit am Ende doch noch über ihre Erwerbsminderungsrente freuen kann, Jonas Herrmann das Leben in seiner Krayer WG genießt, Kim Knorre sich als Frauenbeauftragte in einer Werkstatt engagiert, Stefan Bellenberg ins Ambulant Betreute Wohnen wechseln konnte, Sven Lodwick beim Rollstuhl-Basketball aufdreht und Amelie Frenkel jeden Morgen zur Arbeit in eine Kindertagesstätte geht? Das alles kann nur gelingen, wenn das Selbstvertrauen von Menschen mit Behinderung nicht durch äußere Zwänge gebrochen, sondern gestärkt wird. Und wenn ihnen zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Unterstützerinnen und Unterstützer zur Seite stehen – sie sind im Buch u.a. durch die Väter Thomas Frenkel und Georg Herrmann, Schulleiterin Julia Gajewski, Pfarrerin Hanna Mausehund, Jugendhaus-Leiter Richard Poser und Pfarrer Klaus von Lüpke, den Gründer der Aktion Menschenstadt, beispielhaft vertreten. Auch Oberbürgermeister Thomas Kufen und Sozialdezernent Peter Renzel wurden interviewt.

Eine Begegnung auf Augenhöhe ist möglich

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen setzt die Messlatte sehr hoch an. So hoch, dass das Machbare gar nicht mehr wahrgenommen werde, wie manche Kritiker meinen? Nur auf diese Weise werde deutlich, dass unsere Gesellschaft noch lange nicht so inklusiv sei, wie sie sein sollte und auch sein könnte, entgegnen die Befürworter. Nur dadurch, dass Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch benannt würden, entstünde der politische Wille zur Veränderung. Das Buch „Bin auch ’n Mensch“ zeigt jedenfalls: Eine Begegnung auf Augenhöhe von Menschen mit und ohne Behinderung, empathisch und doch auch wiederum ganz normal, mit den Höhen und Tiefen, die nun einmal dazugehören, ist möglich, wenn wir alle sie wollen. Viel hat sich schon getan, seit die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland ratifiziert wurde, viel wird sich noch tun müssen – auch in unserer Stadt Essen. Aber eine moderne Gesellschaft, die im Kern friedlich zusammenhält und die Vielfalt menschlicher Lebensformen gleichzeitig als Bereicherung für uns alle begreift, ist ohne ein bewusstes Hinwirken auf mehr Inklusion nicht mehr denkbar.

Erstes Exemplar für Oberbürgermeister Thomas Kufen

Weil auch Oberbürgermeister Thomas Kufen einer der Interviewpartner war und sich die Projektgruppe, zu der Menschen mit und ohne Behinderungen gehören, von dem Ergebnis neue Impulse für eine inklusive Stadtgesellschaft verspricht, erhielt das Essener Stadtoberhaupt am Donnerstag (13.01.) das erste Exemplar. Beim Besuch im Rathaus waren die Initiatoren und Projektverantwortlichen durch Pfarrerin Christine Stoppig (Leiterin der Aktion Menschenstadt), Lisa Lichtenstein (Mitarbeiterin der Aktion Menschenstadt und Mitglied der Projektgruppe), Uli Briehn (Interviewpartner und Mitglied der Projektgruppe) und Daniela Keil (Mitarbeiterin der Aktion Menschenstadt und Mitglied der Projektgruppe) vertreten. Im Gespräch würdigte Thomas Kufen den Beitrag, den die Interviews zur Essener Diskussion über das Thema Inklusion leisteten: „Es ist wichtig, dass wir uns als Gesellschaft dafür einsetzen, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken und gemeinsam dazu beizutragen, dass Vorurteile abgebaut werden. Das Buch ist ein gelungener Beleg dafür, dass wir uns dieser Aufgabe stets bewusst sein müssen.“ sein Vorschlag, eine Auswahl von Texten und Fotos in einer Ausstellung im Rathausfoyer zu zeigen, fand bei den Besucherinnen und Besuchern großen Anklang.

Bibliografische Angaben

„Bin auch ‘n Mensch“. Menschen aus Essen berichten von ihren Erfahrungen zu 10 Jahren UN-Behinderten-Rechts-Konvention in Deutschland. Hg.: Aktion Menschenstadt des Kirchenkreises Essen. Gebunden inkl. Audio-CD, 240 Seiten, Essen 2021. ISBN 978-3-00-070595-3.

Interviews (Gespräche, Recherche, Niederschrift): Jonas Küppers, Nora Schumm – Redaktion, Lektorat: Dennis Hübner, Zoe Hülsmann, Daniela Keil, Lisa Lichtenstein – Grafik und Gestaltung: Sichtvermerk. Büro für Typografie und Gestaltung (Stefan Claudius, Kathrin Roussel) – Fotos: bildwerkeins (Paul Walther) – Druck: Woeste – Hörversion: Daniela und Anna Keil, Jochen Malmsheimer – Aufnahme und Produktion: Jochen Malmsheimer – Projektkoordination: Dennis Hübner, Daniela Keil, Lisa Lichtenstein

Bestellungen sind zum Preis von 15 Euro zzgl. Versandkosten gegen Vorkasse bei der Aktion Menschenstadt, Jennifer Keßler, Mail jennifer.kessler(at)evkirche-essen.de, Telefon 0201 2205-123, möglich. Die Entstehung des Buches und das zur Vorbereitung durchgeführte Projekt wurden finanziell durch die Aktion Mensch gefördert.

Stichwort: Aktion Menschenstadt

Die Aktion Menschenstadt, das Behindertenreferat der Evangelischen Kirche in Essen, wurde 1977 aus der offenen Jugendarbeit heraus als eigenständiges Referat innerhalb des damaligen Stadtkirchenverbandes Essen gegründet. Heute ist die Aktion Menschenstadt der größte Gemeindeübergreifende Dienst des Kirchenkreises Essen. Mit ihrem Angebot der mobilen Integrations- und Assistenzdienste begleitet die Aktion Menschenstadt über eintausend Menschen mit Behinderung in Kindertageseinrichtungen und in der Schule, bei Kultur- und Freizeitaktivitäten, auf Ferienfahrten und in der Erwachsenenbildung. Für die Aktion Menschenstadt sind 300 angestellte Mitarbeitende in verschiedenen Assistenzdiensten tätig; 200 Ehrenamtliche helfen bei der Durchführung von Urlaubsreisen, befristeten Projekten und inklusiven Gemeindetreffs. Bei der Aktion Menschenstadt sind vielfältige Praktika möglich. 25 Mitarbeitende kümmern sich im Haus der Evangelischen Kirche und zwei inklusiven Stadtteilcafés um die Leitung, Organisation und Verwaltung aller Angebote.

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