Am Gedenkstein für die früheren jüdischen Bürger/innen Schwelms gedachten Bürgermeister Stephan Langhard, Ingrid Andre, Gabriele Czarnetzki, Anke Buetz und ein Anwohner der Opfer des Holocaust (Foto: Stadtverwaltung Schwelm / Heike Rudolph)
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Schwelm. Stilles Gedenken an die Opfer des Holocaust

Seit über 20 Jahren gedenkt man in Schwelm am 27. Januar eines jeden Jahres der Opfer der Holocaust. Man hat sich hier schon früh der Anregung des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog angeschlossen, den 27. Januar zum Gedenktag zu erheben. Warum dieses Datum? Weil am 27. Januar 1945 das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde und weil niemals vergessen werden darf, was man allen Opfern des Holocaust angetan hat.

In der Regel nehmen zahlreiche Bürger/innen an dieser Zusammenkunft am Gedenkstein für die ehemaligen jüdischen Bürger/innen Schwelms teil. Doch die Coronapandemie ließ leider keine öffentliche Einladung zu.

So legten heute nur fünf Personen im Namen von Rat und Verwaltung den Kranz nieder. Bürgermeister Stephan Langhard begrüßte Ingrid Andre, die den Gedenkstein seit vielen Jahren betreut und

„sehr dazu beiträgt, dass die Opfer dieses unfassbaren Massenmordes nicht vergessen werden“. Er dankte ihr ebenso mit Blumen wie den Lehrerinnen Gabriele Czarnetzki und Anke Buetz, die die AG Lokalgeschichte/Stolpersteine des Märkischen Gymnasiums leiten.

Diese Schüler/innengruppe unterstützt das jährliche Gedenken seit Jahren mit selbständigen und wegweisenden Beiträgen. „Sie als Pädagoginnen durchdringen das Thema mit den jungen Menschen, wecken und stärken das Bewusstsein der Jugend für dieses unbegreifliche Kapitel der deutschen Geschichte und geben ihnen die Freiheit, sich mit eigener Stimme zu äußern. Das ist bewundernswert. Sie haben viel bewegt, und ich möchte mich bei Ihnen dafür herzlich bedanken“, so der Bürgermeister, der sehr bedauerte, dass die Mitglieder der AG wegen der Pandemie nicht anwesend sein konnten.

Ihre Begleitung des Gedenkens haben sie aber fortgesetzt durch einen Textbeitrag, der sich in diesem Jahr mit der Wannseekonferenz befasst, die vor genau 80 Jahren stattfand und die den begonnenen Holocaust auf bürokratisch-technische Weise koordinierte. „Am Beispiel dieser Konferenz“, so Stephan Langhard, „die ja in Wahrheit eine Verabredung zum Massenmord war, lässt sich gut nachvollziehen, was uns alle bis heute frösteln lässt. Es ist die Tatsache, dass hier die Vernichtung von millionenfachem Leben unter den Gesichtspunkten von Effizienz, Technik und Logistik entschieden wurde“.

„Die AG Lokalgeschichte/Stolpersteine“, weiß der Bürgermeister, „hat genau diese Sprache in den Blick genommen. Die Differenz zwischen der Sprache auch der Wannseekonferenz und der faktischen Wahrheit, die verschleiert werden sollte, erschüttert uns noch heute und macht uns wachsam. Wir bekommen es mit unseren Maßstäben von Moral nicht erklärt, wie es dazu kommen konnte, aber wir sollten es uns auch nicht so einfach machen und ausschließlich mit dem Finger auf die handelnden Akteure zeigen. Denn diese Form der Verrohung findet sich bis in die jüngste Zeit an verschiedenen Stellen unseres Planeten, in Europa zuletzt Anfang der 1990 Jahre im ehemaligen Jugoslawien“.

So wie die Mitglieder des berüchtigten Reserve-Polizei-Bataillons 101, das im Zweiten Weltkrieg Kinder, Frauen und Männer ermordete, würden Menschen immer versuchen, Rechtfertigungen für ihr unmenschliches Verhalten zu finden. Man müsse wissen, dass diese Gefahr immer bestehe, und „deshalb“, so Stephan Langhard, „ist für mich das Gedenken an den Holocaust von dauerhafter Wichtigkeit“.

 

Beitrag der AG Lokalgeschichte/Stolpersteine

Heute vor genau 80 Jahren und 7 Tagen fand am 20.1.1942 die sogenannte „Wannsee-Konferenz“ statt. Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich hatte zu dieser Konferenz alle wichtigen Größen aus Partei, Polizei und SS zur Besprechung der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ eingeladen. In einer Villa am Großen Wannsee wurde der grauenvolle Höhepunkt, der industrialisierte Massenmord an Millionen jüdischer Menschen, perfektioniert. Heydrich verpflichtete mit dieser Konferenz die gesamte Exekutive der NS-Diktatur zur Unterstützung des NS-Vernichtungsprogramms an den europäischen Juden.

Das Protokoll zu diesem Treffen schrieb Adolf Eichmann, der sich 1961 in Jerusalem in einem Prozess für millionenfachen Mord verantworten musste und zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. Seine Mitschrift, von der es ursprünglich 30 Ausfertigungen als Geheime Reichssache gegeben haben muss (heute existiert nur noch ein erhaltenes Exemplar) zeigt, mit welch unmenschlicher Kaltblütigkeit über den Tod von Millionen von Menschen entschieden wurde.

Noch deutlicher werden die am Wannsee geplanten Verbrechen, wenn man das Protokoll einer eingehenden Untersuchung bezüglich des Sprachgebrauchs der NS-Verbrecher unterzieht. Dieser Aufgabe haben wir uns gestellt und möchten unsere Ergebnisse als Mahnung verstanden wissen. Sprache ist ein gewaltiges Mittel, das dem Guten dienen kann, aber bei Missbrauch ebenso schlimme Schäden anrichtet. Gerade in unserer von Medien und Meinungen geprägten Zeit, die häufig keine Rücksicht auf die Verletzlichkeit des Einzelnen nimmt, und an diesem Gedenktag, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz heute vor 77 Jahren, möchten wir zu Mitmenschlichkeit und Toleranz aufrufen, damit wir verhindern, was nicht wieder geschehen darf!“

 

Es folgen sieben Auszüge aus dem Wannsee-Protokoll im Wechsel mit Ereignissen aus der Chronologie des Holocaust:

A. „Die Federführung bei der Bearbeitung der Endlösung der Judenfrage liege ohne Rücksicht auf geografische Grenzen zentral beim Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei.“

B. ENDLÖSUNG: Das Ende wovon und für wen? Lösung: Warum muss es eine Lösung geben und für welches Problem? Für wen bedeutet es das ENDE? Eine endgültige Lösung????

Wie kann man in Bezug auf menschliche Schicksale von Endlösung sprechen?

 

A. „Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD gab sodann einen kurzen Rückblick über den bisher geführten Kampf gegen diesen Gegner. Die wesentlichen Momente bilden,

a. die Zurückdrängung der Juden aus den einzelnen Lebensgebieten des deutschen Volkes,

b. die Zurückdrängung der Juden aus dem Lebensraum des deutschen Volkes.“

B. 1.4.1933: Erste Aktionen gegen Juden, Boykott gegen jüdische Geschäftsinhaber; 7.4.1933: Entlassung jüdischer Beamter

Hier werden Mitmenschen als Gegner bezeichnet, die bekämpft werden müssen, anstatt sie zu schützen, wie es Aufgabe eines Staates wäre!

 

A. „Auf Anordnung des Reichsmarschalls wurde im Januar 1939 eine Reichszentrale für jüdische Auswanderung errichtet, mit deren Leitung der Chef der Sicherheitspolizei und des SD betraut wurde.“

B. 5.10.1938: Die Reisepässe aller deutschen Juden werden mit einem „J“ versehen; 3.12.1938: Juden wird das Führen und Halten von PKWs und Krafträdern verboten; 6.12.1938: In Berlin gilt der „Judenbann“ = Eine Anzahl von Straßen, Plätzen, Gebäuden und Anlagen dürfen von Juden nicht mehr betreten werden.

Welch ein Zynismus, der Bewegungsraum der jüdischen Mitmenschen war völlig eingeschränkt, an Ausreise war überhaupt nicht zu denken!

 

A. „Das Aufgabenziel war, auf legale Weise den deutschen Lebensraum von Juden zu säubern.“; „Die Finanzierung der Auswanderung erfolgt durch die Juden bzw. jüdisch-politischen Organisationen selbst.“

B. 9.11.1938: Reichspogromnacht: Jüdische Geschäfte werden geplündert, Synagogen niedergebrannt und 20.000 Juden festgenommen und in Lager gebracht; 12.11.1938: „Verordnung zum Schutz der deutschen Rasse“: Juden werden enteignet und ihr Eigentum „Arisierung“.

Nichts an diesen Geschehnissen war legal! Nun mussten die jüdischen Mitbürger selbst um ihr Leben fürchten!

 

A. „Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten.“

B. 8.2.1940: Anordnung zur Errichtung des Ghettos in Lodz. Dort starben vom 30.6.1942 annähernd 30.000 Menschen; 16.10 – 4.11.1941: Beginn der Deportation aus Deutschland, Österreich und dem Protektorat; 8.11. 1941 – 25.1.1942: Beginn der 2. Deportationswelle

Evakuierung bedeutete Verbringung in die Konzentrationslager!!!

 

A. „Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird.“

B. 30.1.1939: Hitler droht in einer Reichstagrede die „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ an; 20.3.1942: In Auschwitz Birkenau werden die Gaskammern in Betrieb genommen.

Geplant ist die Vernichtung durch Arbeit!!!

 

A. „Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist. (siehe die Erfahrung der Geschichte)“

B. 3.1942: Beginn der Massentötungen im Vernichtungslager Belzec im besetzten Polen; 27.1.1945: Die sowjetischen Truppen betreten das Konzentrationslager Auschwitz; Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden allein in Auschwitz zwischen 1,2 und 1,6 Millionen Menschen ermordet.

Mit dem Wannsee-Protokoll wurde die Ermordung von 11 Millionen Juden aus ganz Europa geplant. Es ist unvorstellbar, dass das NS-Regime am Ende tatsächlich ca. 6 Millionen Menschen ermorden konnte!

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