(Foto: Uwe Schummer)
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Willich/Kreis Viersen. 2002 im Oktober: Erstmals hatten mich mehr als 80.000 Menschen aus dem Kreis Viersen direkt in den Deutschen Bundestag gewählt. Statt Medienarbeit für die CDA-Deutschlands lockte das demokratisch legitimierte freie Mandat und ein zweiter Wohnsitz im Berliner Wedding. Mitarbeiter für das Bürgerbüro in Viersen und das Bundestagsbüro in Berlin mussten angeworben werden und dann hinein in die neue Welt. Das wilhelminisch geprägte Reichstagsgebäude und die modernen Parlamentsgebäude im Umfeld an der Spree, ein imposanter Anblick. Mein Gefühl: Hier steht nun deine Werkbank. Jetzt schreibst du ein wenig mit, an den politischen Geschichten der Zeit.

Auch damals war die Union Opposition. Mein Thema wurde die berufliche Bildung; der Übergang von der Schule in den Beruf. Mit einer Berufsbildungsreform hatte ich mein erstes Gesetzesprojekt. Aus dem Parlament heraus in das Kabinett, im Konsens zwischen Regierung und Opposition. Unser Ziel, die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung im europäischen Bildungsraum von Portugal bis Malta. Weitere Projekte folgten. Fünf Mal wurde ich direkt gewählt. 19 Jahre Politik in Wechselschicht. Nach Heimatwochen und Erdung im Wahlkreis folgten Berlinwochen mit den immer gleichen Abläufen parlamentarischer Gremien von Fachgruppen über die Fraktion zu den Ausschüssen bis hin zum Plenum. Mittendrin, im „Maschinenraum“ der Demokratie.

Jetzt bin ich draußen. Sehe die Gebäude an der Spree im Fernsehen. Ärgere mich über Nachrichten, verfolge die politischen Ränkespiele und ordne mein Leben neu. Meine „letzte Runde“ war mit Ansage. Andere, die nicht mehr nominiert wurden oder bei der Wahl unterlegen sind, hatten nicht die Zeit der mentalen Vorbereitung. Nach 48 Jahren Erwerbstätigkeit nahm ich mir das Recht, über meine Zeit frei zu verfügen. Nach einer ärztlichen Diagnose wurde mir klar, es war richtig los zu lassen. Permanente 70-Stunden-Wochen ohne Wochenenden gehen an die Substanz. Kümmere dich nicht mehr um alles und jedes, sondern um die Menschen, die dir besonders nah sind, und auch um Hund und Katz in meiner „Finca am Niederrhein“.

(Foto: Uwe Schummer)

Der Generationenwechsel verlief schnell und harmonisch. Meine regionale Bekanntheit nimmt ab, ebenso die Einladungen. Der Tagesablauf entspannt sich. Das magische Kürzel „MdB“ fehlt nun an meinem Namen und dokumentiert einen Bedeutungsverlust, nicht nur bei den Medien. Doch eines habe ich mir gegönnt: Die Veröffentlichung eines Buches im Klartext-Verlag. „Zwischen Markt und Marx“, die Aufarbeitung christlich-sozialer Politik von der industriellen Revolution bis zum Lieferkettengesetz gegen Kinder- und Zwangsarbeit des Jahres 2021. Wer schreibt, der bleibt bei politischen Stiftungen, Verbänden und Hochschulen weiter gefragt. Mit den Büchern reise ich quer durch unser schönes Land um aus dem Fundus des Erlebten zu berichten.

Die Aufarbeitung der Akten aus dem Bundestagsbüro für das „Archiv Christlich-Demokratischer Politik“ in Berlin gehört zur Reflexion dessen, was sich in fast 20 Jahren politisch ereignet hat. Von der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung, die mich in jungen Jahren geprägt hat, kam ein Hilferuf. So wurde ich spontan für zwei Jahre Bezirksvorsitzender der KAB Niederrhein im Bistum Aachen. Wir bereiten die Sozialwahlen bei den Krankenkassen und der Rentenversicherung vor. Bis zum 31. Mai 2023 sind 50 Millionen Versicherte zur Briefwahl aufgerufen. Doch am liebsten bin ich unterwegs: In Talkrunden, mit dem Buch unterm Arm um frei von der Leber über das zu sprechen, was uns wichtig sein sollte. Demokratie braucht viele Mitstreiter. Die Neinsager, permanent Empörten, von Fakes und Hates Getriebenen dürfen nicht das Klima unseres Zusammenlebens vergiften. Wir können und müssen uns kultiviert streiten, wenn es um schwierige Entscheidungen geht; doch auch der Konflikt braucht Anstand und am Ende den Konsens aller Demokraten.

Von Uwe Schummer
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