v.l. Norbert Blüm und Uwe Schummer (Foto: Uwe Schummer)
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Bonn/Willich/Rhein-Ruhr. Es war eine der großen sozialpolitischen Auseinandersetzungen als vor dreißig Jahren am 22. April 1994 der Deutsche Bundestag die soziale Pflegeversicherung beschloss. Nach der Deutschen Einheit sollte die Pflegeabsicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung geregelt werden.

Norbert Blüm, Arbeits- und Sozialminister plante unter dem Dach der Krankenversicherung eine eigenständige soziale Pflegeversicherung. Paritätisch von Arbeitgebern und Beschäftigten finanziert; je nach ihrer Leistungsfähigkeit. Als Pressesprecher der CDU-Sozialausschüsse hatte ich die Aufgabe eine Aktion mit den Kirchen und Sozialverbänden zu planen. So wurden Unterschriften gesammelt, Kongresse durchgeführt, Erklärungen abgegeben, ein Christlich-Sozialer Kongress in Bad Godesberg durchgeführt und ein Bündnis pro Pflege gestartet.

Dabei lief der Konflikt nicht zwischen Regierung und Opposition, sondern zwischen der Union und dem Koalitionspartner FDP. SPD und Gewerkschaften wollten eine steuerfinanzierte Regelung. Keine gute Idee vor dem Hintergrund der Finanzierung einer maroden Planwirtschaft in der ehemaligen DDR. Die FDP wollte ein privates Modell für die Versicherungswirtschaft. Dabei war die Lage klar: 75 Prozent der Pflegebedürftigen waren auf Sozialhilfe angewiesen. Sie war die faktische Pflegeversicherung. Nach jahrzehntelanger Arbeit gingen Pflege und Armut Hand in Hand. Der betroffene Mensch wurde zum Taschengeldempfänger. Unwürdig in einem der reichsten Länder der Welt.

Zu siebzig Prozent kümmern sich Angehörige um die Pflegeabsicherung. Doch in den Großstädten leben zur Hälfte Singles. In den ländlichen Regionen ist die Bereitschaft zur häuslichen Pflege weitaus höher als in den Städten. Viele, die heute familiär pflegen, werden in absehbarer Zeit selbst pflegebedürftig sein. Zwanzig Prozent der Bundesdeutschen waren 1995 älter als sechzig Jahre. 2030 werden es 38 Prozent sein. Die Lebenserwartung verbessert sich kontinuierlich. Sie beträgt bei Sechzigjährigen im Schnitt noch zwanzig Jahre. Allerdings wächst mit zunehmendem Alter auch das Pflegerisiko. 2030 wird die Zahl der zu pflegenden Menschen auf drei Millionen geschätzt.

Bereits 1989 forderte die „Konzertierte Aktion“ im Gesundheitswesen Maßnahmen um einen „Pflegenotstand in den neunziger Jahren zu verhindern.“ So sollte die Zahl der Auszubildenden in der Pflege massiv erhöht und die Arbeitsbelastung gemildert werden. Insgesamt müsse mehr Geld in das System. Die Pflegeversicherung war eine, die zentrale Antwort. Mehrfach drohte die CDA-Deutschlands mit einem Koalitionsbruch, da die FDP unwillig war, einer Regelung in der Sozialversicherung zuzustimmen. Am Ende schwenkten auch SPD und Gewerkschaften auf die Blüm-Linie ein. Die FDP war isoliert. Als Kompromiss wurde zur Kompensation der Beitragsleistung durch die Unternehmen ein Feiertag geopfert und in die Berechnung mit aufgenommen.

Mit der Pflegeversicherung wurden ab 1996 jährlich 26 Milliarden DM für die Pflege mobilisiert. Übernommen werden bis heute nur die direkten Pflegekosten. Unterkunft und Verpflegung finanzieren sich über die Alterseinkünfte. Bund und Länder vereinbarten, nicht notwendige Krankenhäuser in Pflegeeinrichtungen umzuwidmen und die ambulante Pflegehilfe auszubauen. Mit dem Grundsatz „Ambulant vor Stationär“ sollte die familiäre und heimatbezogene Pflege besser gesichert werden. Daneben sollten alternative Formen wie Wohngemeinschaften, betreutes Wohnen, Mehr-Generationen-Projekte gefördert: die Pflege als aktivierendes Begleiten weiter entwickelt werden. Menschen brauchen neben der medizinischen Pflege Zuspruch, Ermunterung und Geborgenheit.

Mehr Unterstützung bedarf auch die professionelle Arbeit, die körperlich und psychisch anstrengend ist. Ausreichendes Personal und ihre Begleitung über Pflegeassistenz sind überfällig; das Berichtswesen und die Bürokratie können heute digital so organisiert werden, dass sich der Zeitanspruch merklich reduziert. Die Tarifbindung in der Pflege, ein modernes Ausbildungskonzept und bessere Personalschlüssel sind immer noch zentrale Themen. Über 700.000 Pflegekräfte haben ihren Beruf aufgegeben, weil sie ihn nicht mit ihrer privaten Situation oder ihrer eigenen Gesundheit verbinden können.

Eine „Aktion Come Back“ würde hier allen helfen: den pflegebedürftigen und den pflegenden Menschen. Klar ist, der Reformbedarf bleibt eine ständige Aufgabe. Doch ohne das Instrument der sozialen Pflegeversicherung wäre der Kollaps vorprogrammiert. Neben der Unterstützung für Millionen Menschen war sie auch das größte Entlastungsprogramm für die Kommunen. Arbeit, Gesundheitsvorsorge und Pflege bauen aufeinander auf. Sie enger zu verzahnen, wäre auch aktuell ein sinnvolles Projekt.

Von Uwe Schummer

Uwe Schummer, MdB von 2002 bis 2021 (Foto: Christian Thiel)
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