Thomas Wolff und Jan Hille mit der auf die Leinwand projizierten Gaya Bommer-Yemini (Foto: Joseph Ruben)
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Bielefeld. »Zu Bette, zu Bette, der Sandmann kommt!«, prägt sich als abendliches Mantra seiner Mutter in das Gedächtnis des kleinen Nathanael. Heimlich beobachtet er den vermeintlichen Sandmann, der angeblich wach bleibenden Kindern solange Sand in die Augen streut, »bis diese blutig zum Kopf herausspringen«. Dabei stellt Nathanael fest, dass es der finstere Herr Coppelius ist, der mit dem Vater alchemistische Experimente durchführt. Als eines Nachts der Vater dabei ums Leben kommt, bilden »Sandmann«, »Augen« und »Coppelius« in Nathanaels Hirn ein Trauma, das er noch Jahre später zu verarbeiten sucht. Seiner Verlobten Clara schreibt der Student reflektierte Briefe, doch der Besuch eines italienischen Wetterglashändlers und die Begegnung mit Olimpia, der still-schönen Tochter seines neuen Professors, bringen Nathanaels Wahrnehmung gehörig durcheinander …

Die 1816 erschienene, psychologisch fein gezeichnete Erzählung »Der Sandmann« zeigt das künstlerische Multitalent E. T. A. Hoffmann auf dem Höhepunkt seiner literarischen Ausdrucksfähigkeit. Geradezu beispielhaft reitet er hier sein Steckenpferd und lässt einmal mehr das Irreale, Grauenerregende schleichend in ein reales, bürgerliches Szenario einbrechen. Es war die Zeit der politischen Neuordnung nach den napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress, zugleich der Beginn der Industrialisierung, mit der eine große Begeisterung für mechanische Erfindungen einherging, aber auch die Sehnsucht nach dem Irrationalen, nicht-Domestizierbaren, kurzum: der Beginn der Romantik. Mit den Motiven dieser Epoche jongliert Hoffmann brillant und lässt in der reflektiert-hilflosen Briefroman-Ästhetik fast schon die Erkenntnisse der Psychoanalyse erahnen, die doch erst ein Dreivierteljahrhundert später Wellen schlagen sollte.

Der für seine originäre Ästhetik weltweit gefeierte Regisseur Robert Wilson und die britische Singer-Songwriterin Anna Calvi erweckten »Der Sandmann« 2017 zu neuem Leben. Diese Produktion wurde bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen gezeigt und am Schauspielhaus Düsseldorf weitergespielt. Der Untertitel »Oper« mag angesichts von Rocksongs irreführend wirken, weist das Stück aber als ein genuin durch Musik geprägtes Werk aus, das von einer zehnköpfigen Band befeuert wird. Die Bielefelder Inszenierung denkt die starken Impulse der Vorlage wie der Theaterproduktion unter dem variierenden Vorzeichen der spartenübergreifenden Produktion weiter.

Intendant Michael Heicks setzt dabei einmal mehr auf die Zusammenarbeit mit dem Videokünstler Sascha Vredenburg, der Bühnenbildnerin Annette Breuer, den Kostümbildnerinnen Anna Rose und Julia Wartemann sowie dem Choreografen Gianni Cuccaro. Wo in Hoffmanns Erzählung der Sandmann Illusion bleibt, nimmt er auf der Bühne gleich doppelt Gestalt an, was der verschobenen Wahrnehmung der Titelfigur Rechnung trägt. In der Hauptrolle des Nathanael ist Jan Hille zu erleben, in weiteren Rollen Christina Huckle (Mutter), Oliver Baierl (Vater), Gesa Schermuly (Clara), Thomas Wehling (Lothar), Thomas Wolff (Coppelius/Coppola), Stefan Imholz (Spalanzani) und Lukas Graser (Siegmund). Olimpia wird von Gaya Bommer-Yemini und Dorėja Atkočiūnas verkörpert; als Sandmann stehen Nikolaj Alexander Brucker und Chiara Ducomble auf der Bühne, die Olimpia auch ihre Stimme leiht. William Ward Murta leitet die Band.

PREMIERE Sa. / 11.05. / 19:30 Uhr / Stadttheater

DER SANDMANN

Anna Calvi / Robert Wilson

Oper von Anna Calvi und Robert Wilson / Nach der gleichnamigen Erzählung von E.T.A. Hoffmann / Musik, Arrangements und Liedtexte von Anna Calvi / Zusätzliche Musik und Arrangements von Jherek Bischoff / Konzept, Buch und Design der Uraufführungsproduktion von Robert Wilson / Textfassung von Janine Ortiz

Weitere Termine 18.05. / 23.05. / 25.05. / 11.06. / 13.06. / 28.06. (zum letzten Mal)

Karten T. 0521 51 5454 // www.theater-bielefeld.de

Musikalische Leitung William Ward Murta Inszenierung Michael Heicks Bühne Annette Breuer, Michael Heicks Kostüme Anna Rose, Julia Wartemann Choreografie Gianni Cuccaro Video Sascha Vredenburg Dramaturgie Ralph Blase, Jón Philipp von Linden Sprechchor Sybille Krobs-Rotter Kampfcoach Benjamin Armbruster

Mit Oliver Baierl, Gaya Bommer-Yemini/Dorėja Atkočiūnas, Nikolaj Alexander Brucker, Chiara Ducomble, Lukas Graser, Jan Hille, Christina Huckle, Gesa Schermuly, Thomas Wehling, Thomas Wolff, Band

Spielort
Stadttheater
Niederwall 27
33602 Bielefeld

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