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Die Wohngemeinschaft Hülsermannshof bietet sechs Plätze für wohnungslose Menschen (Foto: Marc Albers)

Dinslaken. Ein richtiges Zuhause hat Timo nie gekannt. Wenn seine Mutter umzog – meistens wegen eines Mannes – musste er mit. Von der Ukraine nach Deutschland, den Niederrhein rauf und runter. Die Wohnungen wechselten, die Männer auch, die meisten hatten Probleme mit dem Kind aus einer anderen Beziehung und auch Timo kam mit ihnen selten klar. Wenn der heute 24-Jährige über seine Kindheit spricht, dann klingt das nüchtern und abgeklärt, aber die Wortwahl ist verräterisch. Die Verletzungen sitzen tief. „Ich war schon als Kleinkind auf mich selbst gestellt“, sagt er. Oder: „Ich habe mich oft allein gefühlt.“ Und: „Familie ist für mich ein ganz komisches Wort, Halt habe ich nie empfunden.“ Es kam, wie es kommen musste. Ein kleiner Junge, ganz allein. Probleme in der Schule, Drogen, zwei abgebrochene Ausbildungen, Zwangsräumung, er stand auf der Straße. „Ich hab’ dann mal hier und mal dort geschlafen“. Im Klartext: auf der Couch von irgendeinem Kumpel. Ein Leben ohne Perspektive. Eine Depression kam dazu, der junge Mann dachte an Suizid. Doch dann machte es Klick bei ihm. „So kann es nicht weitergehen.“ Dass er inzwischen auf einem guten Weg ist, hat er auch dem Team der Wohnungslosenhilfe des Kreisverbandes der Arbeiterwohlfahrt Wesel e.V. zu verdanken.

Claudia Niedermeyer, Anja Stahl, Nadine Kowalewski und Yvonne Rosengart sind die vier Frauen, die sich an der Schillerstraße 62a in Dinslaken um wohnungslose Menschen kümmern. Natürlich nicht nur in der Schillerstraße. Die Mitarbeiterinnen haben auch viele Außentermine. Die AWO betreut eine Wohngemeinschaft am Hülsermannshof und bietet außerdem in Dinslaken selbst Wohnraum an. Außerdem kümmert sich ein Team von Sozialarbeiter/innen auch um Menschen im ambulant betreuten Wohnen, auf dem Weg zurück in ein selbstständiges Leben. Aber die Schillerstraße 62a ist für Betroffene die erste Anlaufstelle. Auch für Timo. Nach einem Klinikaufenthalt schickte ihn das Jobcenter zur AWO. Auch wohnungslose Menschen brauchen eine Postanschrift, zum Beispiel, um Hartz IV beziehen zu können.

Wer das erste Mal bei Claudia Niedermeyer und ihren Kolleginnen aufschlägt, den lassen sie erst einmal ankommen. „Ganz zwanglos“ beschreibt Claudia Niedermeyer den ersten Kontakt. In Ruhe einen Kaffee trinken, vielleicht Zeitung lesen, Telefon und Computer stehen zur Verfügung, ein bisschen Smalltalk. Wenn der läuft, ist eine Basis geschaffen. Dann wird in intensiven Gesprächen herausgearbeitet, wo die Probleme liegen, wie der Weg zurück in einen geregelten Alltag aussehen könnte. Wohnungslosigkeit ist in der Regel nur die Spitze des Eisbergs. Wer seine Wohnung verliert, hat auch noch andere Probleme. Sucht- oder psychische Erkrankungen, Überschuldung, Verlust von Job und sozialen Kontakten und vieles mehr. Das Team aus der Schillerstraße ist eingebunden in ein großes Netzwerk von Beratungsstellen, vermittelt zum Beispiel zur Sucht- oder Schuldnerberatung oder zum Amt für Wohnungsnotfälle, wenn jemandem die Räumung ins Haus steht. Robert Khatal, der zuständige Abteilungsleiter beim AWO-Kreisverband, betont die gute Zusammenarbeit mit den verschiedenen Ämtern und Beratungsstellen anderer Organisationen. Das Team in der Schillerstraße sei „die Schaltstelle für das, was danach kommt“. 254 wohnungslose Frauen und Männer wurden im vergangenen Jahr betreut, 53 mehr als noch im Jahr 2014.

Auch Timo gehörte dazu. Ihn brachten die Sozialarbeiterinnen im Hülsermannshof unter, dort unterhält die AWO eine Wohngemeinschaft mit sechs Plätzen für wohnungslose Menschen. Für ihn, so der junge Mann, sei der Hülsermannshof ein Sprungbrett zurück in ein normales Leben gewesen. Vier Monate hat er dort gewohnt, „und auch, wenn’s nur ein Zimmer war, war es ein beruhigendes Gefühl, meine eigenen vier Wände zu haben“. In der Zeit in der WG wurde Timo von der AWO betreut, die Betreuung läuft weiter, auch nachdem er wieder in eine reguläre Wohnung gezogen ist. Die Unterstützung ist für den intelligenten jungen Mann nach wie vor sehr wichtig. „Ich bin zwar wieder an dem Punkt angekommen, an dem ich mir sage, du kannst auf eigenen Füßen stehen.“ Aber noch brauche er eine Art Rettungsseil, ein Netz, das ihn im Notfall auffangen kann. „Wenn irgendetwas passieren sollte, ist da jemand, der mir hilft und den ich alles fragen kann.“

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