Jeannette Gutmann mit ihren drei Söhnen(v.l.) Hans-Josef, Kurt und Fritz (Foto: Stadtarchiv/Stadt Mülheim an der Ruhr)
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Mülheim an der Ruhr. Vor fast genau 80 Jahren, am 22. April 1942, fuhren 942 Menschen, davon 60 jüdische Frauen und Männer aus Mülheim an der Ruhr, vom Bahnhof Düsseldorf-Derendorf nach Izbica im damaligen Distrikt Lublin in den Tod. Zwei Tage dauerte diese Fahrt in Güterwaggons der Reichsbahn. In Izbica befand sich zu dieser Zeit ein sogenanntes „Durchgangsghetto“, in das verschiedene Transporte mit tausenden jüdischen Menschen aus dem Deutschen Reich und Tschechien gebracht wurden.

Über das weitere Schicksal der Deportierten gibt es nur wenige Hinweise aus Briefen und Postkarten der Menschen, die bis zu einem halben Jahr in diesem Ghetto unter unmenschlichen Bedingungen vegetieren mussten. Viele starben bereits in dieser Zeit an Krankheiten, die durch die Verhältnisse im Lager ausbrachen. Menschen berichteten auch von Erschießungen. Der größte Teil der Insassen aber wurde in einem der Vernichtungslager in Belzec oder Sobibor ermordet.

Unter den 60 Mülheimer Juden und Jüdinnen, die am 22.4.1942 nach Izbica deportiert und ermordet wurden, befanden sich auch vier Menschen, für die am 4.5.2022 an zwei Stellen in der Mülheimer Innenstadt neue Stolpersteine verlegt werden.

Fünf Stolpersteine werden vor dem Haus Hindenburgstraße 73 (heute Friedrich-Ebert-Straße 73) verlegt. Dort wohnte eine alte Dame, Lina Kann, mit ihrer verwitweten Tochter Jeannette Gutmann, geb. Kann, und ihren drei minderjährigen Enkeln Hans-Josef, Fritz und Kurt. Die Familie Kann lebte schon über mehrere Generationen in Mülheim an der Ruhr. So war Linas Ehemann Simon Kann ein Bruder des Vorsitzenden der Mülheimer Synagogengemeinde, Meyer Kann. Dieser bekleidete dieses Amt von 1900 bis zu seinem Tod im Jahre 1943. Sein Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof an der Gracht.

Jeanette besuchte mit ihrer Schwester Selma die Luisenschule. Ihre jüngeren Geschwister – sie hatte noch drei Brüder – konnten sich und ihre Familien fast alle durch die Ausreise nach Buenos Aires in Sicherheit bringen. Sie holten auch ihre Mutter Lina 1939 noch nach Argentinien und überlebten somit den Holocaust. Jeannette und ihrem Bruder Friedrich Kann war dies – wahrscheinlich aus finanziellen Gründen – nicht möglich.

1928 verstarb plötzlich Jeannettes Ehemann. Als alleinerziehende Mutter versuchte sie verzweifelt, ihre drei Kinder zu retten. Für die zwei Jüngsten, Fritz, 10 Jahre alt und Kurt, 12 Jahre alt zum Zeitpunkt der Trennung, gelang ihr das auch über Kindertransporte nach Schottland. Sie konnte die Beiden in Sicherheit bringen, aber wiedersehen werden Kurt und Fritz ihre Mutter, ihren ältesten Bruder und auch die Großmutter nie mehr. Hans-Josef, der älteste Sohn, war mit 17 Jahren zu alt für die Kindertransporte. Er wurde mit seiner Mutter nach Izbica deportiert und ermordet, genau wie Friedrich, der Bruder von Jeannette.

Über die traumatischen Erlebnisse und schrecklichen Erinnerungen ihres damals 12 jährigen Vaters werden die aus Berlin zur Stolpersteine-Verlegung  anreisenden Kinder von Kurt Gutmann, Elke Tischer geb. Gutmann und Hans-Joachim Gutmann, während ihres Aufenthalts in Mülheim an der Ruhr auch mit Schüler*innen der Grundschule Zunftmeisterstraße und der Luisenschule ins Gespräch kommen.

Zwei weitere Stolpersteine werden am 4.5. an der Leineweberstraße 47 verlegt. Eigentlich war das schon für 2019 geplant, jedoch verhinderte das seinerzeit die Baustelle in der Leineweberstraße.

Die Steine erinnern an das jüdische Ehepaar Richard und Erna Meyer, deren Schicksal Wilhelm von Gehlen festgehalten hat. Auch sie sind am 22.4.1942 nach Izbica deportiert worden.

Diese schrecklichen Ereignisse sind vor 80 Jahren geschehen. Die Stolpersteine erinnern nicht nur an Lina Kann, Jeannette, Hans-Josef, Fritz und Kurt Gutmann sowie Richard und Erna Meyer und die vielen anderen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sondern sie sind auch eine Mahnung, wohin Rassenwahn, Hass, Hetze, Menschenverachtung, Gewalt und Krieg führen.

Die Verlegungen der Stolpersteine am 4.5.2022 finden statt:

  • Fünf Steine für die Familie Gutmann/Kann um 10.00 Uhr an der Friedrich-Ebert-Straße 72 – 74.

(Da die Häuserzeile heute nicht mehr vorhanden ist, werden die Steine auf der anderen Straßenseite mit Blickrichtung auf das ehemalige Haus verlegt) und

  • Zwei Steine für Richard und Erna Meyer an der Leineweberstraße 47 um 10.45 Uhr.

An den Verlegungen haben der Oberbürgermeister, der Polizeipräsident, der Ehrenbürger Jaques Marx und weitere Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft ihre Teilnahme zugesagt.

 

Die Biografien findet man auf der Seite des Stadtarchivs unter: https://www.muelheim-ruhr.de/cms/index.php?action=auswahl&fuid=c8b6547378006fe0a97e0ffaa26c00ed

und auf der WDR-Stolperstein-App-Seite unter: https://stolpersteine.wdr.de/web/de/

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