Mohi (zweite von links, vorne) wurde herzlich von ihrer Familie in Usbekistan empfangen (Foto: Friedensdorf)
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Oberhausen/Dinslaken. Als die kleine Mohi in der letzten Aprilwoche das große Flughafengebäude in der usbekischen Hauptstadt Taschkent verlässt, könnte sie nicht glücklicher sein. Ein breites Lächeln umspielt ihr Gesicht. In wenigen Minuten wird sie ihre Familie wiedersehen, endlich, nach mehr als vier Monaten. So lange war die 10-jährige Usbekin in der Obhut des Friedensdorfes. Nach einer schweren Verbrennung beider Hände und des Bauchbereiches litt Mohi unter starken Narbenkontrakturen, durch die sie besonders die Finger ihrer rechten Hand nicht mehr richtig bewegen konnte. In ihrer Heimat Usbekistan gab es keine Behandlungsmöglichkeit. Im Medizin-Zentrum des Friedendorfes, das neben einer Rehabilitations-Abteilung auch einen ambulanten Eingriffsraum enthält, konnte Mohi geholfen werden. Ehrenamtlich operierenden Ärztinnen und Ärzten lösten die Kontrakturen an ihrer Hand und gaben Mohi somit ihre Bewegungsfreiheit zurück. Von ihrer aufregenden Zeit im Friedensdorf wird sie ihren Eltern in wenigen Minuten berichten können. Gemeinsam mit drei weiteren Kindern, die sich mit Mohi auf den ersehnten Heimweg machen konnten, wird sie ihre Familie wieder in die Arme schließen.

Ortswechsel, einen Tag später. Zwischen Taschkent und Banjul, der Hauptstadt des westafrikanischen Landes Gambia, liegen knapp 9.000 Kilometer. Während Mohi wieder zurück bei ihrer Familie ist, wird der dreijährige Alagie in Banjul aus dem Flugzeug getragen, müde von der langen Reise, aber glücklich. Auch er ist gemeinsam mit drei weiteren Kindern in seine Heimat Gambia zurückgeflogen. Anders als die kleine Mohi war er allerdings für ein ganzes Jahr zur medizinischen Behandlung in Deutschland. Eine Speiseröhrenverengung machte es Alagie noch vor einem Jahr unmöglich, vernünftig zu schlucken. Erst eine erfolgreiche Operation in einer thüringischen Klinik, die mit dem Friedensdorf kooperiert, sowie eine ausführliche Nachsorge in der Heim- und Pflegeeinrichtung im Oberhausener „Dorf“ ermöglichte dem kleinen Jungen, wieder normal essen und trinken zu können. Pünktlich zu seinem vierten Geburtstag konnte Alagie nun nach Hause. Auf seiner langen Heimreise wurden er und die anderen Kinder von Marina Demirciyan und Saskia Kosi, Mitarbeiterinnen des Friedensdorfes, begleitet. Sie konnten die vier gambischen Jungen an ihre glücklichen Eltern und Familien noch am Flughafen übergeben und sie über alle relevanten Informationen über den Behandlungsverlauf der Kinder unterrichten. In Zusammenarbeit mit der gambischen Partnerorganisation „Project Aid The Gambia“ sichteten sie in den folgenden Tagen abermals eine Gruppe von Kindern, die mit einem der nächsten Hilfseinsätze nach Deutschland kommen werden. „Leider haben sich uns in Banjul nicht so viele Kinder vorgestellt, wie erhofft“, berichtet Marina Demirciyan nach ihrer Rückkehr. „Wir hätten gerne noch mehr Kindern eine medizinische Behandlung in Deutschland ermöglicht. Wie wir sehen, ist die Armut in Gambia weiterhin groß, nicht viele Menschen können sich eine spezialisierte medizinische Behandlung oder eine Anreise in die Hauptstadt leisten. Daher planen wir für den nächsten Hilfseinsatz, in die Provinzen des Landes zu reisen, um mehr kranke Kinder zu erreichen.“

Erneuter Ortswechsel, zurück in Zentralasien. Zwei Tage nach Ankunft des kleinen Alagie in Banjul sieht Abdulloh den Boden seines Heimatlandes Tadschikistan aus dem Flugzeugfenster immer näherkommen. Es ist nicht das erste Mal, dass der 11-Jährige die Flugstrecke zwischen Oberhausen und Duschanbe auf sich nimmt. Er war zur Wiedervorstellung in Deutschland, zur ausgiebigen Kontrolle der Behandlung seiner Narben im Gesichts- und Halsbereich, die er sich durch eine Verbrennung zugezogen hatte. Aktuell ist seine Behandlung abgeschlossen und er darf in Begleitung von zwei tadschikischen Mädchen wieder nach Hause fliegen. Trotz Abdullohs Flugerfahrung: Die Freude, seine Eltern wiederzusehen, ist so groß, wie die seiner kleinen Begleiterinnen. Auch für die Friedensdorf-Mitarbeiterinnen Birgit Hellmuth und Raissa Neumann ist das Wiedersehen an diesem ersten Maitag ein emotionaler Moment. Nach der Übergabe können sie sich der nächsten wichtigen Aufgaben widmen: Gemeinsam mit der tadschikischen Partnerorganisation „Dechkadai Sulh Derewnja Mira“ neue Kinder für eine medizinische Behandlung in Deutschland auswählen. In der Hauptstadt Duschanbe und drei weiteren Provinzen sehen sie rund 180 Kinder. Viele von ihnen leiden unter Narbenkontrakturen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, auch einige Kinder mit Herzerkrankungen sind unter den Patienten und Patientinnen. Für sie gibt es Hoffnung in der Stadt Kurgan-Tjube. Dort wohnt Nigora, die von 1999 bis 2000 aufgrund einer schweren Brandverletzung selbst im Friedensdorf war. Ihre Eltern hatten nach Nigoras Genesung ein Büro eröffnet, um kranken Kindern wie Nigora zu helfen. Bei seinem Besuch erfährt das Hilfseinsatzteam von Nigoras Projekt „Fliegende Schwalbe“, um gezielt Kindern mit Herzerkrankungen zu helfen.

Zu den Kindervorstellungen kommen, wie schon im vergangenen Jahr, viele Familien, deren Kinder geistige oder körperliche Behinderungen haben. Die hohe Anzahl an körperlich behinderten Kindern in Tadschikistan ist vor allem auf die Hausgeburten zurückzuführen, die tadschikische Frauen ohne ärztliche Betreuung zuhause erleben. Die aus den schwierigen Geburten resultierenden Behinderungen stellen ein Problem für die ganze Familie dar. Besonders in den ländlichen Regionen wird nämlich jede helfende Hand gebraucht, um das Überleben der Familie zu sichern. Aufgrund der vielen körperlich eingeschränkten Kinder in Tadschikistan finanzierte das Friedensdorf 2016 ein Projektgebäude in Duschanbe. In dessen Physiotherapie-Raum werden Kinder mit Behinderung mobilisiert und die Familienangehörigen im Umgang mit ihren Kindern geschult. Dies bedeutet eine enorme Entlastung im Alltag der Familien. Erweitert wurde das Projekt 2019 für Kinder mit schwersten Behinderungen um ein mobiles Physiotherapie-Team, das vor Ort Hausbesuche durchführt („Rehabilitation zu Hause“). Als Birgit Hellmuth und Raissa Neumann das Physiotherapie-Team um Ärztin Rokshona, Krankenschwester Sarina und Masseurin Mavluda in der ersten Maiwoche bei seinen Hausbesuchen begleiten, wird ihnen die große Not vieler Familien bewusst: „Wir sehen Kinder, deren Extremitäten gelähmt sind und die eine besondere Betreuung benötigen. Unter den sehr einfachen Umständen, in denen die armen Familien in Tadschikistan leben, ist die Situation besonders hart“, erklärt Birgit Hellmuth. „Das Physiotherapie-Team leistet hier eine so wichtige Arbeit. Sie begleiten die Familien teilweise über viele Jahre und entlasten sie mit ihrer Unterstützung enorm im Alltag.“ Eine Entlastung, die gerade in diesen Zeiten von besonderer Bedeutung ist. Denn viele Familien wissen nicht mehr, wie sie sich und ihre Kinder ernähren sollen. „Die Preise für Grundnahrungsmittel steigen und steigen. Vor allem Brot und Gemüse werden wesentlich teurer“, so Birgit Hellmuth. Daher plant Friedensdorf International wie schon im vergangenen Jahr, bedürftige tadschikische Familien für den Winter zu wappnen und sie mit Grundnahrungsmitteln und Hygieneartikeln zu unterstützen. Der Einkauf, das Verpacken und die Verteilung der Lebensmittel soll erneut durch die Partnerorganisation vor Ort erfolgen.

Mohi, Alagie und Abdulloh haben sich mittlerweile wieder zuhause eingelebt. Ihre Geschichten stehen exemplarisch für die von aktuell rund 160 Kindern aus sieben Nationen, die sich in der Obhut des Friedensdorfes befinden. Der Bedarf an medizinischer Hilfe ist in ihrem Heimatland weiter enorm groß. „Wir würden gerne mehr Hilfe leisten“, betont Friedensdorf-Leiterin Birgit Stifter. „In Usbekistan fanden dieses Mal beispielsweise keine Kindervorstellungen statt, da die Warteliste für kommende Hilfsflüge schon sehr lang ist.“ Schon jetzt finanziert das Friedensdorf in Usbekistan, teilweise seit mehreren Jahrzehnten, vier Operationsprojekte für Kinder: ein Lippen-Kiefer-Gaumenspalten Projekt, ein Projekt für orthopädische Operationen, eines für plastisch-chirurgische Operationen und ein Projekt für herzkranke Kinder.

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