Wissenschaftler diskutieren vor Ort in Neuss und online in ganz Deutschland über internetgestützte Psychotherapie, Erfahrungen mit virtuellen Räumen und den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (Foto: © St. Augustinus Gruppe)
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Neuss. Die Patientin, eine Managerin auf Dienstreise, sitzt im Hotelzimmer in Chicago. Ortszeit: 20 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt schläft ihr Psychotherapeut in Neuss tief und fest. Aber er hatte verschiedene Arbeitspakete mit Texten und Videos verschickt und Rückmeldungen auf die Fragen der Patientin gegeben. Ein paar Tage später werden sie sich dazu per Videotelefonie austauschen, und für den kommenden Monat ist ein persönliches Gespräch im Alexius/Josef Krankenhaus geplant. „Es gibt, wie Studien zeigen, eine Gruppe von Patienten, die Online-Formate in der Psychotherapie bevorzugen“, berichtet Prof. Ulrich Sprick, Chefarzt  der Ambulanten Dienste und Leiter der Internet-Psychotherapie an der Neusser Psychiatrie. Und das liege längst nicht nur an Corona.

Das Alexius/Josef Krankenhaus behandelt seine Patienten schon länger sehr erfolgreich mit Online-Therapie, Virtual Reality und mit der Unterstützung Künstlicher Intelligenz. Genau zu diesen – in der Fachwelt heiß diskutierten – Themen kamen jetzt in Neuss Experten aus ganz Deutschland zusammen: einige im Tagungsraum vor Ort, die überwiegende Mehrheit aber zugeschaltet per Video und Live-Chat. Das sogenannte Hybrid-Symposium „Online-Psychotherapie 2020 − Neuste gesundheitspolitische und fachspezifische Entwicklungen“ schaltete zu Hörsälen in München, Regensburg und Bochum. Fachleute aus ganz Deutschland hörten und sahen online zu und diskutierten über Grundlagen, Anwendungsmöglichkeiten und gesetzliche Voraussetzungen von Online-Psychotherapie.

Die Experten waren sich einig: Diese Behandlungsform bietet viele Vorteile. So können Patienten die Programme genau dann durcharbeiten, wenn sie dazu bereit sind. Alles Aufgeschriebene kann noch einmal in Ruhe durchgelesen werden. „Außerdem öffnen sich manche Patienten dem Therapeuten lieber schriftlich – gerade bei schwierigen, schambehafteten, intimen Themen wie Missbrauch oder Ängsten“, weiß Sprick. Und schließlich: Wer online zur Therapie geht, muss nicht in die Sprechstunde. „Es gibt Patienten, die eine konventionelle psychotherapeutische Behandlung als Stigma empfinden“, so Sprick. Er hält es allerdings für wichtig, dass Therapeut und Patient sich persönlich kennen. Studien zeigen: Je intensiver der persönliche Kontakt, desto besser die Therapieerfolge. „Daher geht der Trend zu kombinierten Verfahren, in denen es sowohl  schriftlichen Austausch als auch Vor-Ort-Gespräche gibt.“

Über den Einsatz von Virtual Reality (VR) wurde in Neuss ebenfalls beraten. Am Alexius/Josef Krankenhaus ist VR längst Teil der alltäglichen Praxis, beispielsweise bei der Angsttherapie: „Die Situationen sind exakt planbar, die Bedingungen kontrollierbar und dosierbar.“ Bei Höhenangst oder Flugangst etwa sind die Patienten viel offener, als wenn sie beispielsweise über eine echte hohe Brücke gehen oder in ein echtes Flugzeug steigen sollten – denn sie wissen genau, dass sie nicht in realer Gefahr sind. Außerdem sind die Szenarien leicht wiederholbar, vor Ort in der Ambulanz durchführbar und deutlich preiswerter.

Klar wurde beim Symposium in Neuss: Trotz vieler Vorteile kann Online-Psychotherapie kein Ersatz für sämtliche herkömmliche Therapieformen sein – aber durchaus eine sinnvolle Ergänzung. Erfolgsquote und Zufriedenheit der Patienten weisen jedenfalls darauf hin, dass sich Behandlungen „aus der Ferne“ in Zukunft immer mehr durchsetzen werden.

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