Wichtige Gespräche: Dr. Adrian Schweinoch und seine Patientin Kristina T. (Foto: © St. Augustinus Gruppe)
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Essen. Kristina T. sieht sportlich aus und kerngesund. Dabei ist die 22-Jährige seit acht Jahren magersüchtig. „Die körperliche Verfassung sagt nichts über den Stand der Erkrankung aus“, sagt sie. „Auch, wenn ich heute in einem gesunden Gewichtszustand bin, habe ich die Krankheit. Ich bin reflektiert, merke aber bei belastenden Situationen, dass die Essstörung anklopft.“ Mit 14 Jahren nahm Kristina binnen kürzester Zeit extrem ab, rutschte ins Untergewicht. „Ich hatte jeden Bezug zum normalen Essen verloren: Was sind angemessene Portionen, was braucht eine gesunde Ernährung?“, erinnert sich die Studentin. „Ich hatte regelrecht Angst vor den Kalorien in bestimmten Lebensmitteln.“ Kristina T. schluckte exzessiv Abführmittel und wurde so leicht, dass ihr Leben in Gefahr war. Gerade noch rechtzeitig kam sie in fachklinische Behandlung. Seitdem gibt es stabilisierende Gespräche, eine medikamentöse Einstellung, psychotherapeutische Behandlung und Verhaltenstherapie.

„Magersüchtige haben eine verzerrte Wahrnehmung dessen, was sie essen“, erläutert Dr. Adrian Schweinoch, Funktionsoberarzt in der Psychosomatischen Spezialsprechstunde des Neusser Alexius/Josef Krankenhauses. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie behandelt Kristina T. und stellt fest, dass die Pandemie gerade im zweiten Corona-Jahr besonders für sensible Menschen eine große Belastung bedeutet: „Eine Essstörung entwickelt sich nicht über Nacht. Es dauert, bis sich die Symptome deutlich zeigen.“ Das Geschlechterverhältnis seiner Patienten liege bei zehn zu eins: „Mädchen und junge Frauen haben oft Kontakt zu Bereichen, in denen es ums Schlanksein geht: Ausdauersport, Tanzen, Modeln.“ Typisch sei, dass sich die Patientinnen immer mehr mit Essen und der eigenen Figur beschäftigen. Und die soziale Funktion des Essens gehe verloren: Betroffene essen immer häufiger allein und ziehen sich sozial zurück.

Zu den Ursachen einer Magersucht zählen häufig familiär belastende Situationen, Schwierigkeiten mit dem Erwachsenwerden oder stark schlankheitsbezogene Ideale sowie eine genetische Veranlagung. Die Kernfrage sei immer, wann ein dünner Mensch nicht nur sehr schlank, sondern magersüchtig wird und Hilfe braucht: Besteht Leidensdruck, was den eigenen Körper angeht? Gibt es Beeinträchtigungen im Alltag, zum Beispiel eine Konzentrationsschwäche? „Spätestens bei körperlichen Reaktionen wie Herzrasen, Schwäche, Schwindel oder Ohnmachtsanfällen braucht es professionelle Hilfe“, mahnt Dr. Schweinoch. „Wir betrachten die Tagesstruktur, wann gegessen wird, schauen auf die Ursachen und was dahintersteckt.“

Kristina T. hat in den vergangenen Jahren einige Höhen und Tiefen durchgemacht. „Es ist eine Sucht, aber ich habe mir Strategien angeeignet, um in schwierigen Lebenssituationen darauf zurückgreifen zu können.“ Ihre wichtigste Botschaft lautet: Magersucht ist kein Grund zum Schämen, und sie ist heilbar. Wichtig sei ein gutes soziales und therapeutisches Netz. Und tatsächlich gibt es viele Anlaufstellen für auch niederschwelligen Kontakt: Beratungsstellen, Spezialsprechstunden – sogar online und telefonisch – und natürlich Ärzte, Psychiater und Psychosomatiker. „Je früher der erste stationäre Aufenthalt vorliegt, desto besser ist im Normalfall die Prognose“, sagt Dr. Schweinoch.

 

Info-Box:

Anorexia Nervosa oder Magersucht ist die am weitesten verbreitete Essstörung in Deutschland. In der Regel haben Magersüchtige ein gestörtes Selbstbild, sind unzufrieden mit ihrem eigenen Körper und empfinden sich als zu dick. Besonders heikel ist die Magersucht, wenn Betroffene von außen in ihren Körperstoffwechsel eingreifen, beispielsweise Medikamente nehmen oder Erbrechen herbeiführen. In Extremfällen kann die Krankheit zum Tod führen.

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