v.l. Dr. Sarah Hübscher (Organisatorin der begleitenden Gesprächsreihe), Dr. Florence Thurmes und Regina Selter (Direktorinnen MO), Künstlerin und MO_Kunstpreisträgerin Hannah Cooke, Benjamin Sieber (Vorsitzender der Freunde des Museum Ostwall e.V.) und Dr. Nicole Grothe, Leiterin der Sammlung des Museum Ostwall und Kuratorin der Ausstellung (Foto: © Roland Gorecki, Dortmund Agentur)
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Dortmund. Am Sonntag, 11. September, 11 Uhr verleihen die Freunde des Museum Ostwall e.V. den diesjährigen MO_Kunstpreis an die Künstlerin Hannah Cooke. Im Anschluss an die Preisverleihung wird im MO_Schaufenster eine Ausstellung mit Werken der Künstlerin  eröffnet. Unter anderem werden hier die beiden Videoinstallationen „Ada vs. Emin“ und „Ada vs. Abramović“ zu sehen sein, die im Rahmen des MO_Kunstpreises für die Sammlung des Museum Ostwall angekauft wurden.

Die Künstlerin
Hannah Cooke, geboren 1986, erforscht mit ihren Arbeiten gesellschaftliche Schieflagen: Genderfragen, informelle oder institutionelle Hierarchien innerhalb des Kunstbetriebs, aber auch die Zugänglichkeit zu Kultur im Allgemeinen sind Themen ihrer Werke. Sorgfältig recherchiert sie zu zuvor klar definierte Fragestellungen und setzt ihre Antworten mit Humor in Performances, Videos, Fotografien und Installationen um – ohne dabei allzu einfache Lösungen anzubieten. Ihr geht es vor allem darum, unseren Blick zu schärfen, bestehende Machtstrukturen in Frage zu stellen und verfestigte Normen und Rollenverständnisse aufzubrechen.

Die Werke der Ausstellung
Ada vs. Emin / Ada vs. Abramović (2018; Video, Sound; 10 min.): Von der Künstlerin Marina Abramović wurde die Aussage verfestigt, Frauen seien in der Kunst weniger erfolgreich als Männer, weil sie nicht auf Liebe, Kinder und Familie verzichten wollen; die Künstlerin Tracey Emin sagt über sich, dass sie keine Kompromisse mache und entweder 100 Prozent Künstlerin oder 100 Prozent Mutter gewesen wäre. Zwei der einflussreichsten Künstlerinnen der Gegenwart reproduzieren damit die Vorstellung, dass man als Frau eben nicht alles haben kann. Während es für Gerhard Richter (3 Kinder), Pablo Picasso (4 Kinder) oder Lucien Freud (mindestens 12 Kinder) offenbar keine größeren Schwierigkeiten mit sich brachte, gleichzeitig Vater und ein erfolgreicher Künstler zu sein, herrscht gegenüber Frauen auch im 21. Jahrhundert offenbar immer noch die Erwartung, sich entscheiden zu müssen.

Hannah Cooke inszeniert sich mit ihrer Tochter Ada in zwei Settings, in denen sie akribisch berühmte Kunstwerke von Tracy Emin (My Bed, 1998) und Marina Abramović (The Artist is present, 2010) zitiert. Sie zeigt sich uns als Künstlerin UND Mutter und fordert dazu auf, Stereotype zu hinterfragen.

Bitter Pills (2021; Wandteppich; 100% Schurwolle, Spiegel): Welche „bittere Pille“ ist hier zu schlucken? In den Ecken des von Hannah Cooke handgetufteten Wollteppichs fletschen Hyänen ihre Zähne, in der Mitte prangt übergroß eine Vulva, in deren Öffnung wir uns selbst im Spiegel sehen. Obwohl der weibliche Körper als gebärender Körper für unsere Existenz unverzichtbar ist, wird ihm, wie Frauenkörpern generell, in der Medizin wenig Beachtung geschenkt. Jenseits der Gynäkologie steht bei medizinischen Forschungen meist der männliche Körper im Fokus. So werden z.B. neue Medikamente seltener an Frauen getestet, weil der weibliche Körper als „zu komplex“ gilt. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die medizinische Versorgung von Frauen.

Die Hyänen, deren Kommunikationslaute oft als eine Art „hysterisches Lachen“ beschrieben werden, verweisen auf die „Hysterie“, einen von der Antike (hystéra = Altgriechisch für Gebärmutter) bis in das 20. Jahrhundert hinein in der Medizin und der Psychoanalyse genutzten Begriff. Unter diesem wurden verschiedene Krankheiten und Störungen zusammengefasst, die allesamt dem weiblichen Körper zugeschrieben wurden. Obwohl die Medizin heute weiß, dass z.B. dissoziative Störungen bei allen Menschen vorkommen, werden Frauen, die auf Probleme medizinischer oder gesellschaftlicher Art hinweisen, weiterhin oft als „hysterisch“ bezeichnet, im Sinne von „überdreht“ oder „nicht ganz ernst zu nehmen“.  Spucken die Hyänen die „bitteren Pillen“, die man ihnen vorsetzt, vielleicht aus, statt sie zu schlucken?

Schneeläuferin (2021; Teppich; 100% Schurwolle): Ein Gender Data Gap entsteht, wenn bei wissenschaftlichen Untersuchungen ein Geschlecht vernachlässigt wird. Meistens sind dies Frauen, die dadurch Nachteile erleiden. Ein bekanntes Beispiel ist der Einsatz von Crash Test Dummies, mit denen die Auswirkungen von Verkehrsunfällen auf den menschlichen Körper erforscht werden. Die Figuren entsprechen in Größe und Gewicht meist einem durchschnittlichen, männlichen Erwachsenenkörper, an den dann die Positionen der Anschnallgurte und Airbags angepasst werden. – Schlecht für all jene, die durchschnittlich kleiner, leichter oder anders gebaut sind.

Hannah Cookes Teppich „Schneeläuferin“ zeigt hingegen, wie wichtig es ist, möglichst viele Perspektiven in Forschungen zu berücksichtigen. Sie bezieht sich dabei auf eine Untersuchung in Schweden, die Caroline Criado-Perez in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ als eines von vielen Beispielen nennt: In vielen Schneegebieten wurden als erstes die Straßen vom Schnee befreit, um den berufspendelnden Autofahrer*innen (prozentual überwiegend Männer) freie Fahrt zu ermöglichen. Die Gehwege hingegen, auf denen Kinder zum Kindergarten oder in die Schule gebracht oder Einkäufe transportiert werden, blieben oft bis weit in den Vormittag vereist. Kehrt man die Reihenfolge des Schneeschippens um, so zeigt sich, dass weit weniger Fußgänger*innen verunglückten, was sich langfristig positiv auf das Gesundheitswesen auswirkt.

Trousers without Pockets (2021; Denim, Reißverschluss, iPhone Attrappen, wattierter Holz-Draht Unterbau): Wie sich Geschlechtersterotype auf das Design von Kleidung auswirken, und was dieses über gesellschaftliche Hierarchien aussagt, zeigt die Arbeit „Trousers without Pockets“: Die an die Rundungen eines „wohlgeformten“ Pos erinnernde Bodenvase ist mit einem Anzug aus Jeanshosen bekleidet. Aus einigen wenigen Taschen ragen iPhone-Attrappen hervor; viele der Taschen sind jedoch nicht nutzbar, sondern nur aufgesetzt oder zugenäht.

Tatsächlich haben viele für Frauen entworfene Hosen keine Taschen, in die man etwas hinein stecken könnte – nichts soll beulen oder auftragen und von der figurbetonten Silhouette ablenken. Die aus den Taschen ragenden iPhones verweisen auf die Debatten um den iPhone-Hersteller Apple, der Kritik dafür einstecken musste, dass er mit dem 6,5 Zoll großen iPhone Xs Max ein für durchschnittliche Frauenhände nicht einhändig nutzbares Smartphone präsentierte, während die Produktion des nur 4 Zoll großen iPhone SE eingestellt werden sollte.

Der Autorin Seraphine Meya kam beim Anblick dieser Skulptur ein Zitat von Mirna Funk in den Sinn: „Weibliche Unabhängigkeit kann nur mit finanzieller Unabhängigkeit funktionieren.“ Für eine dicke Brieftasche oder einen Autoschlüssel ist in diesen Hosen jedenfalls kein Platz…

Der MO_Kunstpreis
Der MO_Kunstpreis wird einmal jährlich an eine*n Künstler*in verliehen, der/die in der Tradition der Fluxus-Bewegung arbeitet. Der Preis wurde 2014 von den Freunden des Museums Ostwall unter dem Motto „Dada, Fluxus und die Folgen“ ins Leben gerufen, um den MO_Sammlungsschwerpunkt Fluxus zu stärken und um zeitgenössische Positionen zu erweitern. Der Preis ist seitens der Freunde des MO mit 10.000 Euro dotiert, mit denen ein Kunstwerk für die MO_Sammlung erworben wird. Seit 2020 fördert die Stadt Dortmund den Ankauf mit weiteren 10.000 Euro.

„Mit unserer Fluxus-Sammlung verbindet Hannah Cooke die Auseinandersetzung mit Themen des täglichen Lebens. Sie untersucht z.B. die mangelnde Repräsentation von Frauenpersönlichkeiten in der öffentlichen Gedenkkultur oder die Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen im Kontext der Covid-19-Pandemie auf das soziale Miteinander“, sagt Nicole Grothe, Leiterin der Sammlung des MO und Kuratorin der Ausstellung. „Auch ihre kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Kunstbetrieb und beispielsweise dessen – vermeintliche – Unvereinbarkeit mit ihrer Rolle als Mutter lässt sich als zeitgenössische Antwort auf die von George Maciunas in seinem Fluxus-Manifest propagierte Forderung ‚promote living art […] promote non art reality’ interpretieren”, so Grothe.

Benjamin Sieber, Vorsitzender der Freunde des Museums Ostwall e.V.: „Das übergreifende Thema der Systemkritik von Genie-Kult, Künstler-Ego, Hierarchien in der Kunstwelt, Autorenschaft und Leistungsgedanken hat zur Auswahl der wachen Analytikern Hannah Cooke geführt. Sie geht der Doppelmoral auf den Grund, und wir sind mehr als froh, sie als neunte Preisträgern küren zu dürfen.“

Das Begleitprogramm

  • Samstag, 17. September 2022, 17.30 Uhr: Kuratorinnen-Kurzführung bei der 22. Dortmunder DEW21 Museumsnacht, Ort: MO_Schaufenster, Ebene 5, Dortmunder U
  • Mittwoch, 5. Oktober 2022, 13.30 Uhr: Kunstpause am Mittag mit Viktoria von Pidoll im MO_Schaufenster, Ebene 5, Dortmunder U
  • Donnerstag, 13. Oktober 2022, 19.00 Uhr: Artist Talk mit Hanna Cooke und Nicole Grothe (Kuratorin) im Flux Inn, Ebene 4, Dortmunder U
  • Sonntag, 23. Oktober 2022, 11 Uhr: Talk mit Dr. Julia Wustmann (Soziologin, TU Dortmund), im Flux Inn, Ebene 4, Dortmunder U über Geschlechterrollen und Gesellschaft, Care-Arbeit und Elternschaft
  • Donnerstag, 3. November 2022, 19 Uhr: Talk mit Prof. em Dr. Uta Brandes (Designtheoretikerin, be//DESIGN) im Flux Inn, Ebene 4, Dortmunder U über Gender und Design in Objekt- und Alltagskultur
  • Sonntag, 13. November 2022, 11 Uhr: Talk mit Kirsten Becken (Künstlerin, Mitbegründerin von femxphotography.org) im Flux Inn, Ebene 4, Dortmunder U über „Mediale Verknüpfungen zwischen fotografischem Bild und Geschlecht“.

Die Gesprächsreihe zu Kunst und Wissenschaft wurde entwickelt von Evelyn Bracklow (Künstlerin), Dr. Sarah Hübscher und Dr. Elvira Neuendank (Kunst- und Kulturwissenschaftlerinnen).



MO_Schaufenster #32 – MO_Kunstpreis 2022: Hannah Cooke

13. September 2022 bis 8. Januar 2023
Museum Ostwall im Dortmunder U, MO_Schaufenster
Eintritt frei

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